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Hartnäckige Spuren an der verschwundenen Grenze
Auf Radtour entlang des ehemaligen Zauns
War da einmal eine Grenze quer durch Deutschland? Aufbewahrte DDR-Karten verweigern zwar im fünf Kilometer breiten Sperrgebiet jede reale Orientierung, zeigen aber zumindest, wo das Gebiet des Klassenfeindes begann. Denn originale Reste der ehemaligen Sperranlagen sind nur noch vereinzelt in Grenzdörfern erhalten und werden dann oft mit einem harmlos-amateurhaften DDR-Sammelsurium kombiniert. Nur wenige Grenzlandmuseen wie in Marienborn sind didaktisch und professionell angelegt. Point Alpha oberhalb des thüringischen Geisa oder Mödlareuth nahe Hirschberg vermitteln sogar emotional noch etwas von der abschreckenden Wirkung des »antifaschistischen Schutzwalls«.
Selten setzen verbliebene BT9-Beobachtungstürme noch einen kommentarlosen Landschaftsakzent wie der frisch geweißte am noch mehrere Kilometer sichtbaren Kolonnenweg bei Point Alpha oder ein schmutzig grauer am Elbufer bei Neu Bleckede. Bizarr wirken in Dedeleben nördlich des Harzes die vom Todesstreifen geklauten Metallgitterzäune, mit denen Anwohner inzwischen ihre Gärten eingehegt haben. Schilder erinnern an lange unterbrochene Straßen und die Daten, an denen sie wieder geöffnet wurden. Reste von Gräben oder vom Kolonnenweg verschwinden an diesen Straßengrenzpunkten oft schon nach wenigen Metern unter Gras und Sträuchern.
Die machen freilich noch kein »Grünes Band« aus. Die Bezeichnung suggeriert, das gesamte ehemalige Sperrgebiet entlang der 1393 Grenzkilometer sei heute ein geschlossenes Areal von Wiesen und Wäldern. Doch nach wie vor liegen zahlreiche Dörfer und Städte am oder im 500 Meter breiten Schutzstreifen. In Weferlingen zum Beispiel wurden Campinganhänger wie der beliebte Wohnwagen »Bastei« fast am Grenzzaun gebaut. »Und hier stand einmal die Zuckerfabrik«, zeigt ein Rentner auf die beiden Supermärkte. Der Frust über den Treuhand-Ausverkauf steigt noch einmal bei ihm auf. Heute arbeitet man in Wolfsburg oder Haldensleben.
Die gründlichste Erkundungsart dieses nur sporadisch ausgeschilderten Grünen Bandes haben drei Herren um die 50 aus Hannover gewählt. Sie sind im Harbker Forst unweit von Marienborn mit Wanderstöcken und einem leichten Rucksack unterwegs. In 60 Tagesetappen wandern sie fast die gesamte verwinkelte Grenze ab. Sie seien nicht ausgezogen, um das Gruseln zu lernen, betonen sie. Aber im 30. Einheitsjahr biete diese Route schon einen besonderen Kick. Zeigt sonst noch jemand Interesse an den Narben deutscher Geschichte, wo wir doch inzwischen ein so harmonisch wiedervereintes Volk sind? Point Alpha zählt immerhin 100 000 Besucher im Jahr, aber nur wenige neugierige Radler sind zwei Wochen unterwegs.
Vom kleinen zum großen Grenzverkehr
Schon 1997 fielen die neuen breiten Verbindungsstraßen auf. Radwege vergaß man beim Bau meistens. Diese Verkehrserschließung aber wird von Anwohnern selten begrüßt. Gestört durch den endlosen Einkaufstourismus, tauchten schon 1990 bei den Westanwohnern erste Animositäten auf, wo doch die Ossis angeblich nur Freiheit und Demokratie wollten. »Nein zur Brücke« sagen heute die Einwohner von Neu Darchau, wo die Elbe die Grenze zum Dorf Darchau im ehemaligen Bezirk Schwerin bildet. In Lauchröden bei Eisenach belässt man es lieber bei der schmalen Radfahrerbrücke nach Herleshausen.
Auf beiden Seiten hatte man die makabre erzwungene Ruhe auch schätzen gelernt. »Damals konnte ich die Türen immer offen lassen«, seufzt ein Gras mähender Rentner bei Lauen im Norden. »Damals habe ich mich nachts noch allein auf die Straße gewagt«, erinnert sich eine Museumsangestellte im Flecken Brome an der B 248. Nein, nicht die eingefallenen Ossis seien schuld an der Verunsicherung, sondern der Durchgangsverkehr.
Schwindendes Grenzflair, schwindende Infrastruktur
Wirtschaftlich hat der sehr ruhige ehemalige Grenzstreifen noch viel von Zonenrand- oder Sperrgebiet. Neid auf Fleischtöpfe zeigen aber nicht nur Ossis. Im oberfränkischen Nordhalben fiel wie überall nach 1990 die bundesdeutsche Zonenrandförderung weg, ein Autozulieferer baute lieber in Thüringen. Also wollte Nordhalben 2007 aus Bayern raus und nach Thüringen desertieren. Ein Weckruf für die Landesregierung. »Die Fördertöpfe stehen fünf Kilometer weiter«, raunt noch heute eine ältere Dame. Anders als in den 90ern nötigen auch keine kulinarischen Verlockungen den Grenzpassanten zum Halten. Der in patriotischen Farben angepinselte »Grenzimbiss« von Hohegeiß im Oberharz hat ebenso geschlossen wie der »Grenzlandgrill 10 ° Ost« zwischen Duderstadt und Teistungen im Eichsfeld.
Im Künstlerdörfchen Schattin südlich von Lübeck ist die Vermarktung des Grenzflairs ebenfalls schiefgegangen. »Manne« aus Lübeck hatte 1997 noch große Pläne mit zwei nicht gerade einladenden NVA-Kasernen. »Waldhotel« nannte sich das bis heute in den Wanderkarten verzeichnete Projekt. Außer viel Gerümpel und der ehemaligen Panzerhalle ist nur ein Gebäude geblieben, in dem heute Arbeitsmigranten untergebracht sind.
Auf den rund 950 Radkilometern ist Harald Strelow in Boizenburg der einzige entdeckte Gastwirt, der seinen Lebensunterhalt noch mit dem verbliebenen Prickel einer einst schaurigen Grenze verdient. Sein »Checkpoint Harry« war einst Volkspolizei-Vorkontrollposten, fünf Kilometer vor der harten Grenze bei Horst. Stolz zeigt der heute 62-Jährige seine Lizenz vom 12. April 1990, mit der er das vergitterte Objekt der Staatsbank der DDR wegschnappte.
Den genügsamen Spruch »Wir hatten doch alles, was wir brauchten« hört man nach wie vor auf östlicher Seite häufig. Ein 69-Jähriger bei Kneese vermisst vor allem Infrastruktur und Zusammenhalt. »Früher hatte jedes Dorf einen Konsum, eine Schule, eine Kirche und eine Kneipe mit Tanzsaal. Und sonnabends traf man sich, um einander mit Arbeiten zu helfen.« Heute kann man schon mal 30 Kilometer strampeln, ehe man eine geöffnete Kneipe entdeckt.
Verblasst sind neben den ehrlichen Umarmungen Ende 1989 auch die krassen Geschichten, die auf beiden Seiten des Zauns erzählt wurden: von liquidierten Dörfern, von Denunzianten, von versehentlich festgenommenen Land- und Forstarbeitern, von Flüchtlingen, die noch hinter dem Zaun auf den 20 Metern bis zur eigentlichen Grenzsäule erschossen wurden. Damals wie heute ist merkwürdig selten von den 40 101 gelungenen Fluchten über die grüne Grenze die Rede.
Kaum verblassen dürften solch kuriose Geschichten wie die von Großburschla im Werratal. Bauern pfiffen 1945 auf die Jalta-Konferenz und festgelegte Besatzungszonen, verhandelten bei reichlich Schnaps mit den Sowjets, auf dass ihre Felder nicht geteilt würden. So entstand die von der Außenwelt und vom Bahnhof Altenburschla nebenan abgeschnittene DDR-Enklave.
Wie hoch ist die Mauer in den Köpfen noch?
»Wir gehen normal miteinander um«, lautet die häufigste Aussage auf beiden Seiten. Im hessischen Kleinensee wird den Ossis sogar bescheinigt, dass sie »schon immer besser feiern« konnten. Gerald Weinberg wohnt eigentlich auf der östlichen Elbseite in Dömitz, arbeitet aber »drüben« auf dem Campingplatz Dannenberg im Wendland und rettet fünf Radler im Gemeinschaftsraum vor einem Regen- und Sturmtag. Etwas »Ost-Gemeinschaftsgeist« wolle er rüberbringen, erklärt er seine Kulanz, »den haben die hier nie erlebt«.
Doch, ließe sich im nördlichen Schattin entgegnen. Durch Zuzug sei eine »verschworene Ost-West-Dorfgemeinschaft« entstanden, erzählt eine Eingeborene. Ein bei VW in Wolfsburg beschäftigter, 1991 geborener Programmierer kann wiederum mit seinen Altersgenossen Ost, den Kindern der angeblich schärfsten Genossen im Grenzgebiet, wenig anfangen. Die seien noch so dogmatisch und unselbstständig wie ihre Alten. Zwei junge Mütter in Geisa, durch die Point-Alpha-Gedenkstätte gut informiert, bestätigen verblüffend solche Kontinuitätsthesen: »Mit den heutigen Corona-Vorschriften bekommt man ein Gefühl, wie das damals war.«
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