Die wegvereinigte Erinnerung

Alt-Staaken erlebte seine Teilung schon im Sommer 1945 – und sie wirkt nach.

  • Tomas Morgenstern
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist gut, dass es den Berliner Mauerweg gibt. Folgt man den grauweißen Wegweisern, die auf rund 160 Kilometern Länge in etwa den Verlauf der einstigen DDR-Staatsgrenze rund um die »besondere politische Einheit Westberlin« markieren, zeigt sich: 30 Jahre nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Nachkriegsstaaten ließe sich an vielen Orten der Grenzstreifen nicht mehr ohne weiteres finden. So auch, wenn man von Alt-Kladow aus dem Mauerweg über Sacrow und Groß Glienicke ins 20 Kilometer entfernte Staaken folgt. Ganze Abschnitte des alten Kolonnenweges der DDR-Grenzer sind inzwischen asphaltiert. Häufig musste er neuen Eigenheimen weichen, gern in Uferlage, wie entlang der Seepromenade am klaren Groß Glienicker See, der bis 1990 Grenzgebiet war.

An der Nordspitze des Sees zeugen Reste der ab August 1961 errichteten Mauer von der im Kalten Krieg erzwungenen deutschen Teilung. Die traf Berlin mit seinem Vier-Mächte-Status besonders hart. Die Folge war großes menschliches Leid. Zahlreiche Menschen star᠆ben beim Versuch, von der DDR aus Mauer und Stacheldraht zu überwinden - viele wurden von Grenzposten erschossen. Mahnkreuze erinnern an sie, Informationstafeln und Stelen vermitteln ausschließlich die Sicht des Westens auf Spaltung und Mauerbau.

Besonders arg hatte es 1945 die Berliner im Spandauer Ortsteil Staaken erwischt. Den hatten sowjetische und britische Besatzungsbehörden unter sich aufgeteilt. Auch diese Teilung endete mit dem 3. Oktober 1990. Als Eberhard Diepgen (CDU), damals Berlins Regierender Bürgermeister, im November 1993 zu einem Gesprächsabend in die evangelische Dorfkirche Alt-Staaken kam, wollte er wohl angesichts der Probleme mit der Einheit Zuversicht verbreiten. Norbert Rauer, von 1991 bis 2009 dort Pfarrer, hat den denkwürdigen Auftritt erlebt. Die Kirche lag all die Jahre auf DDR-Gebiet - ein Symbol für Zusammenhalt und Widerstand gegen staatliche Willkür. 1989 hatten sich dort, direkt hinter der Mauser und bedrängt von Sicherheitskräften, Oppositionelle im »Staakener Kreis« mit gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR befasst. »Diepgen hat damals gesagt: ›Berlin ist die Werkstatt der Deutschen Einheit und Staaken die Werkbank‹. Da war die Euphorie längst der Ernüchterung gewichen«, sagt Rauer. Dabei habe es an jenem 3. Oktober 1990 auch am Staakener Torweg eine große, freudige Einheitsfeier gegeben.

Das Ungewöhnliche daran, dass die Dorfkirche Alt-Staaken bis 1990 im DDR-Bezirk Potsdam lag, wird augenfällig, wenn man über den Grenzweg kommend auf das Häusermeer jenseits der Heerstraße schaut: Staaken gehört zu Berlin. 1920 kam das Dorf zum Bezirk Spandau von Groß-Berlin. Der gesamte Bezirk lag ab 1945 in der britischen Besatzungszone. Weil aber die Briten von den Sowjets statt eines Umwegs über deren Besatzungsgebiet in Brandenburg einen ungehinderten Berliner Zugang zu ihrem Flugplatz Gatow forderten, vereinbarten die Militärbehörden einen Gebietsaustausch. Mit der Folge, dass ab 31. August 1945 West-Staaken mit dem alten Ortskern und dem Flugplatz Staaken unter sowjetische Hoheit kamen. Im Februar 1951 besetzten DDR-Volkspolizisten West-Staaken - ab 1952 durchtrennte die Sektorengrenze den Ort.

Die Verwaltung wurde vom Magistrat von Groß-Berlin 1952 nur »vorübergehend« an Falkensee im späteren DDR-Bezirk Potsdam übertragen. Doch auch wenn es am Ende sogar eine DDR-Gemeinde Staaken gab - formaljuristisch habe West-Staaken stets weiter zu Groß-Berlin gehört, so Rauer. »Ab 1952 und besonders ab 1961 haben Grenzanlagen und zwei Grenzübergänge das Ortsbild geprägt.« 1952 seien viele West-Staakener aus Angst über die Zonengrenze nach Westberlin gegangen - 380 Familien, rund 1000 Personen. Am Ende seien fast zwei Drittel der Bewohner geflohen oder übergesiedelt. In einem Buch schreibt er: »Nach dem Fall der Mauer und der Rückgliederung von (West-) Staaken/DDR nach Berlin(-Spandau) setzten zahlreiche Rückübertragungsansprüche auf Grundstücke eine erneute Verdrängung der ansässig gewordenen Bevölkerung und Neuansiedlung von bisher nicht gekanntem Ausmaß ein.« Oft seien Eigentümer dabei rücksichtslos vorgegangen, viele Leute hätten das nicht verkraftet. Heute wohnten hier nur noch wenige Ur-Staakener Familien. Die Einwohnerzahl habe sich vervielfacht, doch den Zuzüglern sagten die alten Geschichten nichts.

Kaum ein Mitglied der seit 1999 wieder vereinten Kirchgemeinde wisse auch, dass es nach 1990 beim vorgeblichen Wunsch nach Vereinigung der beiden getrennten Gemeindeteile eigentlich nur um den Grundbesitz der Alt-Staakener Gemeinde gegangen sei. »Es ging um die Rechtsnachfolge, und der Westen wollte den Zugriff allein«, so Rauer. In »seiner« Dorfkirche in Alt-Staaken findet sich, künstlerisch verfremdet, wohl seine Sicht auf Zwist und Hoffnung der Nachwendezeit. Das dort 2002 von Joachim Bayer verwirklichte Wandgemälde »Versöhnte Einheit« hat der italienische Maler und Kommunist Gabriele Mucci (1899-2002) nach Ideen des Pfarrers entworfen. Vor dem Hintergrund der Grenzlandschaft versammelt Mucci wichtige Reformer des 16. Jahrhunderts verschiedener Konfessionen und gegensätzlicher Anschauungen um Martin Luther und Katharina von Bora unter dem alles versöhnenden Kreuz.

2020 werde es keine eigene Einheitsfeiern geben, heißt es im Rathaus Spandau. Corona᠆bedingt. Vielleicht hole man sie später nach.

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