Die DDR überlebt

Das Computerspiel »Ostalgie« ermöglicht die Rettung des realen Sozialismus

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Schweiß auf der Stirn, die Wodkaflasche halb leer, die Zigaretten aufgeraucht. Es ist Januar 1989, ich bin die Staatsführung der DDR und die Kacke ist am Dampfen. Im Computerspiel »Ostalgie« des russischen Entwicklerstudios »Kremlingames« ist es meine Aufgabe, den Realsozialismus zu retten. Dafür bleiben mir drei Jahre Zeit, dann endet das Spiel. Es sei denn, die SED putscht mich vorher weg, die DDR wird dem Staatsgebiet der BRD angeschlossen, die Nato fällt ins Land ein oder die Bevölkerung jagt mich aus meiner Wandlitz-Datsche.

Neu eingeschenkt, los geht’s. Auf meinem Bildschirm erstreckt sich eine Karte Europas und Russlands, die Grafik sieht aus wie aus den 1990er Jahren. Anzeigen geben mir Überblick über die wichtigsten Indikatoren meiner Herrschaftssicherung: das Staatsbudget, die Unterstützung der Bevölkerung, die Unterstützung der Sowjetunion, die Sehnsucht der Bevölkerung nach dem Westen, der Lebensstandard im Land und der Zusammenhalt in der SED. Wenn eins dieser Felder in einen kritischen Bereich kommt, eskaliert die Krise.

Die Idee des Spiels wird schnell klar: 1989 hatte sich ein politisches Fenster geöffnet, das verschiedene historische Ausgänge möglich erscheinen ließ. Die Protestbewegung selber war umkämpft, die SED kein einheitlicher Block, das Handeln einzelner Personen wie auch der Einfluss aus dem Ausland hatten mitunter große Auswirkungen auf die sich schnell verändernden Verhältnisse. Die Geschichte war keine Einbahnstraße und die Krise des Ostblocks ein offener Prozess.

In diesen springe ich nun hinein. Nach einigen Wochen ereignisloser Spielzeit wird es ernst: Gorbatschow vermittelt mir, dass die Zeit für Reformen gekommen ist und ich mich entscheiden soll: an Honecker festhalten, auch zum Unmut von Moskau? Den »Kronprinzen« Egon Krenz zum neuen Generalsekretär der SED bestimmen? Stasi-Chef Erich Mielke oder doch den Partei-Oppositionellen Gregor Gysi? Wohin soll es also gehen? Ich muss mich mit der führenden Person auch für eine generelle Strategie und damit für die zukünftige Gestalt der DDR entscheiden. Mielke wird von demokratischen Reformen wenig begeistert sein. Er ist eher der Kandidat für die Niederschlagung der Proteste und einen abgeschotteten Staatskapitalismus. Gysis Ideale wiederum stehen im Einklang mit demokratischen Reformen, aber könnten im Spiel vielleicht repressive Maßnahmen verbauen. Krenz scheint dagegen vielseitig einsetzbar - zum Test wähle ich ihn, aber versuche mich am Ziel einer demokratischen und sozialistischen DDR zu orientieren.

Als Honecker endlich zu einer medizinischen Behandlung nach Rumänien reist, erkläre ich ihn mit Moskaus Unterstützung zügig für abgesetzt. Krenz kann nun demokratische Reformen verkünden und tauscht als erstes Chefideologe Kurt Hager gegen den Reformer Hans Modrow aus. Die Montagsdemonstrationen besänftigt das nicht. Gysi und die Opposition drängen auf einen Runden Tisch. Ich berufe diesen ein und versuche ernsthaft zu verhandeln - werde allerdings wenige Wochen später gestürzt. Neustart. Jetzt versuche ich, die Reformen mit allen Mitteln zu verzögern.

Durch formale Tricks kann ich die Revolte tatsächlich verlangsamen und nutze die Luft, so gut es geht: Um die links-reformerischen Kräfte zu besänftigen, ändere ich die Leitideologie der SED vom Marxismus-Leninismus zum Eurokommunismus, dazu investiere ich in Rechenzentren und Automatisierung und stelle die Wirtschaft auf Genossenschaften um. Um die Partei zu beruhigen, sorgt der Geheimdienst dafür, dass die führenden Funktionäre sich im Falle einer Revolution nach Indien absetzen dürfen. Und Gorbatschow wird von der 40-Jahr-Feier wieder ausgeladen.

Ohne die Stasi würde ich als Krenz bei all dem nicht weit kommen. Den Realsozialismus nur mit Integrität zu bewahren - in »Ostalgie« ist das sehr schwierig. Es gilt, die Vereinigung mit der BRD zu verhindern? Das Flugzeug mit der DDR-Delegation stürzt auf dem Weg nach Bonn durch Zufall ab. Sich sowohl vor der Sowjetunion als auch vor der Nato schützen? Als »Friedensstaat« heimlich an der Atombombe bauen. Das »Schild und Schwert der Partei« schützen? Bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale durch Montagsdemonstranten sorgt ein Gasleck für eine Explosion, alle Unterlagen verbrennen, der Notstand wird ausgerufen. Die Machterlangung von Jelzin in Russland verhindern? Konservative Kräfte unterstützen und zur Not ein Exekutionskommando entsenden. Realpolitik ist ein schmutziges Spiel.

Es ist mittlerweile 1992, der Wodka ist alle und ich bin noch an der Macht. Einige demokratische Reformen im Einklang mit dem Marxismus wurden eingeführt, auch der Lebensstandard ist gar nicht so schlecht. Mittlerweile gibt es sogar eine Föderation mit der BRD, die Mauer ist weg. Andererseits wurden einige Wahlen gefälscht und an meinen Händen klebt ziemlich viel Blut - war es das also wert? »Ostalgie« bietet hier keine eindeutige Antwort und lädt zum Nachdenken ein.

Ostalgie, erhältlich bei Steam

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -