Antideutsche Stimmen am Rande der Einheitsfeier
Kundgebung im Potsdamer Lustgarten und Konferenz im Jugendzentrum Freiland
Im Potsdamer Hauptbahnhof wartet am Sonnabend ein Rollstuhlfahrer an einer Bäckerei darauf, dass die Kunden vor ihm bedient sind und er an der Reihe ist. Auf seinem Mobiltelefon spielt er laut die Nationalhymne der DDR ab. »Auferstanden aus Ruinen«, schallt es durch den Gang, bis zwei Wachleute auftauchen und den Mann sehr bestimmt auffordern, die Musik leise zu stellen. Als er das getan hat, zeigen sie ihm auf seine Nachfrage durchaus freundlich den Weg zu den zentralen Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit in der Innenstadt.
Die meisten ankommenden Fahrgäste haben aber offenbar andere Ziele, streben etwa zu den Ausflugsschiffen der »Weissen Flotte«. Nebenan im Lustgarten bietet sich noch eine weitere Möglichkeit, den sonnigen Tag zu verbringen. »Wir sind hier die Kundgebung gegen die Einheitsfeierlichkeiten«, wird über Lautsprecher durchgesagt. Die Landtagsabgeordnete Isabelle Vandré (Linke) hat die Veranstaltung angemeldet. 117 Teilnehmer sind gegen Mittag dort. Später, als die antideutschen Band Egotronic spielt, sind es noch mehr geworden. Es gebe »nichts zu feiern«, lautet schon vorher die klare Ansage von der Bühne. »Bereits 1990 war ›Nie wieder Deutschland‹ eine sehr kluge Forderung. Auch heute können wir uns ihrem Charme nicht entziehen.« Das sagt eine junge Frau zu fast ausschließlich jungen Zuhörern. Sie spricht für das Bündnis »Re:Kapitulation«. Es organisierte die Kundgebung und außerdem vom 2. bis 4. Oktober eine Anti-Einheits-Konferenz im linksalternativen Potsdamer Jugendzentrum Freiland. Videomitschnitte der Konferenz sind im Internet unter re-kapitulation.org eingestellt.
Am Sonnabend sagt Friederike Gremliza, Herausgeberin der Zeitschrift »konkret«, bei dieser Konferenz: »Vermutlich ist die antideutsche Haltung noch heute die einzige vernünftige.« 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung lasse sich rekapitulieren, dass es in Deutschland einen Rechtsruck gegeben hat, heißt es bei der Konferenz. Inzwischen seien bestimmte Ansichten nur noch in der linken Szene verbreitet, die früher in den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik allgemeinverbindliche Wahrheiten waren. Dass von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen dürfe beispielsweise oder dass man Neonazis an dem Satz »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« erkenne.
Die Ökolinke Jutta Ditfurth berichtet am Sonnabend, wie 1990 im Hinterzimmer eines Kölner Veranstaltungszentrums die Losung »Nie wieder Deutschland« ausgetüftelt wurde. Ist das nicht zu radikal? Ist das verständlich? Das habe man sich damals gefragt, erzählt Ditfurth. Sie freut sich, wenn junge Leute diese Losung bei Demonstrationen rufen. Im November 1989, als die Mauer fiel, war Ditfurth Mitglied der Grünen. Sie dachte: »Scheiße, jetzt wird Deutschland noch nationalistischer und dann gibt es Krieg.« Neun Jahre später sei es soweit gewesen. Beim Nato-Angriff auf Serbien seien deutsche Bomben auf das Land gefallen. Der damalige grüne Bundesaußenminister Joschka Fischer habe dies infam zu rechtfertigen versucht mit der angeblichen Verantwortung, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Da hatte Ditfurth dessen Partei längst verlassen.
Im Frühjahr 1990 hatte Ditfurth die DDR bereist. Vorher war sie nur einmal als 17-Jährige dort gewesen. Danach wurde sie an der Grenze immer abgewiesen. In Leipzig bei den Montagsdemonstrationen sah Ditfurth 1990 Neonazis, die sie aus dem Westen kannte. In vielen Buchhandlungen der DDR erlebte sie, wie die Werke von Marx und Engels ausgetauscht wurden gegen Reiseliteratur über Mallorca. Nur weil sie nicht ertragen kann, dass Bücher weggeworfen werden, kaufte sie für zwei Mark Stalins gesammelte Werke, die noch irgendwo bei ihr verstauben.
Auch der einstige Grünen-»Fundi« Thomas Ebermann hat eine Anekdote über seinen Besuch in der DDR im Jahr 1969. Er sei gezwungen worden, das Schlagerfestival »Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein« zu besuchen. Er habe die Texte der Lieder verachtet. »Deswegen wurde ich Maoist. Daran ist die DDR Schuld«, schmunzelt Ebermann. Er und Ditfurth sprechen als alte Westlinke zu einem jungen Publikum, das während der Wendezeit vermutlich noch in den Kindergarten ging, wie Ditfurth bemerkt. Wenn sie einen Namen damals handelnder Politiker nennt, fragt sie oft, ob die Zuhörer den überhaupt schon einmal gehört haben. Sie und Ebermann versuchen, nicht selbstgerecht oder besserwisserisch aufzutreten. Die DDR sei ihr fremd gewesen, gibt Ditfurth zu. Es ist ein Blick von außen - interessant zweifellos. Aber die ostdeutsche Perspektive bleibt etwas unterbelichtet.
Es gibt am Sonnabend übrigens noch eine weitere linke Gruppierung, die sich in die Einheitsfeiern einmischt. Das Komitee für preußische Leichtigkeit beweist dabei wieder einmal Humor. Es veranstaltet auf dem Platz der Einheit analog zu Erntedankfesten ein ironisches Wendedankfest mit Bananen und blühenden Landschaften als Kulisse.
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