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  • »Zwischen den Zeiten«

»Zukunftshungrig und zukunftsängstlich«

»Zwischen den Zeiten«: Gunnar Decker führt auf faszinierende Weise »die späten Jahre der DDR« vor Augen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 8 Min.

Der Buchtitel ist Christa Wolfs Erzählung »Kein Ort. Nirgends« entnommen, die von einer fiktiven Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode handelt. »Zwischen den Zeiten«, heißt es da, »ist zwielichtiges Gelände, in dem verirrt man sich leicht und geht auf geheimnisvolle Weise verloren.«

Zwielichtig seien die letzten Jahre der DDR gewesen? Insofern vielleicht, weil sich mit der Biermann-Ausbürgerung 1976 eine neue Eiszeit ankündigte, immer mehr Künstler in den Westen gingen und dann wieder von Osten her ein Tauwetter heranzog, sich Erstarrungen lösten, neue Hoffnungen keimten neben Melancholie und Depression. Zwielichtig auch, weil diese Zeiten höchst unterschiedlich erinnert werden, so sie nicht überhaupt ins Vergessen fielen. Da gräbt Gunnar Decker etwas aus in vielen Einzelheiten, fügt es zusammen und hütet sich doch vor einem starren Bild.

1990 ist er 25 gewesen, Student der Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Wie wäre sein Leben weitergegangen, hätte die DDR fortbestanden? So aber promovierte er 1994 über die »Protestantische Mystik in der Unparteiischen Kirchen- und Ketzertheorie bei Gottfried Arnold«, der von 1666 bis 1714 lebte, nach den Wurzeln des reinen Glaubens suchte und in seiner mystischen Poesie vom frühen Christentum inspiriert war. Das ist Gunnar Decker später unter anderem für sein Buch »Franz von Assisi. Der Traum vom einfachen Leben« (2016) zugutegekommen.

Nach seiner Universitätszeit hat er sich gar nicht erst in Abhängigkeit begeben, wurde ab 1996 freiberuflicher Film- und Theaterkritiker (Leser nicht nur dieser Zeitung schätzen ihn) – und veröffentlichte mehr als ein Dutzend Bücher: über Hermann Hesse, Gottfried Benn, Rainer Maria Rilke, Georg Heym, Vincent van Gogh, Ernst Barlach … Aber auch der jüngeren Geschichte wandte er sich zu. Sein Band »1965 – der kurze Sommer der DDR« war eine Zusammenschau von Wirtschaft, Politik und Kultur in einer Zeit, die in der DDR als »vorsichtiges Tauwetter« galt, das mit dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 jäh beendet wurde. Daran schließt das neue Buch in gewisser Weise an.

Gunnar Decker nennt es eine »Zeitreise, in der sich Persönliches der Weltgeschichte aussetzt«, in eine »Endzeit, in der meine Generation den Glauben an den Sozialismus verlor, um ihn 1985 mit Gorbatschows ›Perestroika‹ auf andere, sehr viel klarer blickende Weise für kurze Zeit wiederzufinden. Dann dominierte erneut die Skepsis. Wohin ging die Reise? Pessoa warnt: ›Wenn das Herz denken könnte, stünde es still‹.« Schon dieser Bezug auf den portugiesischen Lyriker (1888–1935), dessen berühmtes »Buch der Unruhe« erst 47 Jahre nach seinem Tod erschien, gibt einen Vorgeschmack auf den weiten Horizont, der hier zu erwarten ist. Geboten wird nicht nur ein Stück Zeitgeschichte, sondern darüber hinaus ein faszinierender Essay, in den sich der Autor mit seiner ganzen Persönlichkeit eingeschrieben hat – mit seiner unabhängigen Aufrichtigkeit und schöpferischen Offenheit, seinem unablässigen Suchen, dem selbstverständlichen Denken in Zusammenhängen und einer bewundernswürdigen Belesenheit, die gleichsam eine Weltgemeinschaft der Dichter und Denker zutage bringt.

Die DDR hat ja über Jahrzehnte ziemlich abgeschottet existiert, was auch geistige Folgen hatte. Auf ideologische Dogmen eingeschworen lebte es sich für manch einen bequemer. Das individuell Freigeistige, das heute überall zu wuchern scheint, war eingehegt auf einzelne, von oben wachsam beäugte Beete im großen Garten der Künste, denen die Macht indes einen Wert zubilligte, wie man sich das heute kaum vorstellen kann. Die Älteren, die den heißen Krieg noch erlebt hatten und den kalten durchschauten, waren eher bereit, sich zu disziplinieren als die Jüngeren, die schon im Frieden geboren waren und ein immer besseres, freieres Leben für sich wollten. Und die, so sie für die DDR standen, nicht mehr die Aufstiegschancen hatten wie die Eltern und Großeltern: alle Führungspositionen besetzt, ein Nachrücken aus der zweiten, dritten Reihe kaum in Sicht. Erich Honecker, so schien es, hatte sich darauf eingerichtet, ewig an der Macht zu bleiben, und hatte seine Umgebung darauf eingeschworen, die »bewährte« Politik fortzusetzen. Da war hinter den lauthals beschworenen Erfolgen frustrierender Stillstand zu spüren. »Kein Ort. Nirgends« – wie oft habe ich damals diese Worte vor mich hin geseufzt.

»Zukunftsgierig und zukunftsängstlich zugleich« sei er in dieser Zeit gewesen, schreibt Gunnar Decker. Bei mir war es eher eine Gegenwartsangst, weil zur Grenze nach Westen eine nach Osten hinzugekommen war. Die DDR schottete sich ab gegen den »großen Bruder«, undenkbar eigentlich angesichts der viel beschworenen »unverbrüchlichen Freundschaft« und der Macht der UdSSR, politisch, ökonomisch, militärisch. Aber ideologisch schien man dort unbesorgter zu sein, das zeigte sich in vielen Werken der sowjetischen Literatur, die auf den Buchmarkt der DDR kamen. Sie sprachen Probleme an, die auch die unsrigen waren, die aber als momentan unlösbar verschwiegen wurden. Denn die Westmedien würden den Finger auf die Wunde legen, und alles würde nur noch schlimmer werden. Dabei wurde es ohnehin schlimmer. Die da den dialektischen und historischen Materialismus predigten, gaben sich der idealistischen Vorstellung hin, per Verlautbarung und Verschweigen die Realität zu lenken (was ein Erbe des Stalinismus war). Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß? Das funktionierte schon deshalb nicht, weil den Leuten jeden Abend das Westfernsehen in die Wohnzimmer kam.

Als ganz junge Frau wurde ich Redakteurin für ausländische Literatur beim »ND«. Da betraf meine Arbeit auch Bücher aus der BRD. Aber nichts war so schwierig ins Blatt zu bringen wie Artikel über sowjetische Autoren. Ab Mitte der 70er Jahre schon und dann in zunehmendem Maße. Spätestens mit der ideologischen Öffnung unter Gorbatschow musste ich mir eingestehen, dass es einen Dissens gab zwischen mir und denen, die über die Blattlinie entschieden.

Da tat es wohl, sich mit klugen Kollegen vor allem aus den Abteilungen Kultur und Außenpolitik im Gespräch zu wissen. Wir waren nicht zukunftsängstlich: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer«, sagte einer zu mir, als ich mal verzagt war. Ein politisch erfahrener Mann, der später zur DKP ging. Ich hatte sowjetische Literatur studiert, über Tschingis Aitmatow promoviert und konnte Russisch. »Ogonjok«, »Moskowskie novosti« hatte ich zu Hause abonniert, die überaus interessante »Literaturnaja Gazeta« sowie mehrere sowjetische Literaturzeitschriften bekam ich in der Redaktion. Gierig las ich historische Enthüllungen und aktuelle Diskussionen. Dass die neue Meinungsfreiheit dort auch etwas überdecken sollte, wurde mir erst viel später klar.

Viele Erinnerungen werden durch die Lektüre von Gunnars Deckers neuem Buch geweckt. Um »Aneignung der eigenen höchst widerspruchsvollen Geschichte« sei es ihm gegangen, schreibt er zu Beginn. Bei keinem Buch, das ich je rezensierte, habe ich mir so viel herausgeschrieben: 26 Seiten, weil eine solche Menge an interessanten Fakten und Gedanken festzuhalten war. Gunnar Decker, ganz den eigenen Interessen treu, spiegelt die »späten Jahre« der DDR anhand von Kunsterlebnissen: Büchern, Filmen, Theaterinszenierungen, Plastik, Malerei, Fotografie. Das zweispaltig, eng gedruckte Namensregister, beginnend mit dem sowjetischen Botschafter Pjotr Abrassimow (der die Veröffentlichung von Strittmatters »Wundertäter III« zu verhindern suchte) und Tengis Abuladse, dem Regisseur von »Reue« (diesem aufsehenerregenden Film, dem in der DDR bestellte Verrisse galten), endend dann mit dem DEFA-Regisseur Herrmann Zschoche und der russischen Dichterin Marina Zwetajewa, umfasst neun Seiten.

Da werden Kapitel über einzelne Künstler, analytisch brillant und stilistisch geschliffen, zu eigenen Essays – nicht von ungefähr erhielt der Autor 2016 den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste. Was für eine immense Arbeit in diesem Buch steckt! Allein schon, was die Riesenmenge von Büchern betrifft, die noch einmal neu gelesen wurden. Und was für eine reiche Kulturlandschaft da besichtigt wird! Wie überaus vielgestaltig sie war, wie in sich widersprüchlich und zerstritten, wie sie immer wieder, nicht erst beginnend mit der Biermann-Ausbürgerung, von staatlichen Restriktionen beschädigt wurde und doch auf ein Künftiges ausgerichtet war, das so nicht Wirklichkeit wurde. Einen Kulturbegriff gab es, der nicht lediglich auf Zerstreuung in der Freizeit ausgerichtet war, sondern auf Einmischung in gesellschaftliche Angelegenheiten. Zwischen den Kulturleuten und dem Publikum bestand eine Verbindung, von der man heute nur träumen kann. Kunstdiskussionen, die im Kern politisch waren, weil es um unser Zusammenleben ging.

Die einen werden staunen, was sie beim Lesen alles wiedererkennen. Die anderen werden vielleicht verblüfft sein, was alles an ihnen vorbeigegangen ist, während sie im Westen in einer ganz anderen Welt lebten. Letztere haben wie selbstverständlich ihre Vergangenheit zur allgemeinen erklärt, wohnten sozusagen weiter in ihrem Haus, ohne dass ein Umbau nötig wurde. Sich für die Neuankömmlinge zu interessieren, blieb bestenfalls persönlichen Interessen vorbehalten.

Mit der deutschen Vereinigung änderte sich die Medienaufmerksamkeit für DDR-Kultur abrupt. Der sogenannte Literaturstreit im Juni 1990 um Christa Wolfs Erzählung »Was bleibt« markierte einen Paradigmenwechsel. Wer in der DDR geblieben war, egal ob angepasst oder auf Reformen bedacht (oft galt beides), unterlag Verdacht und Demütigung (»Unrechtsstaat«, »Jammerossis«, »Ostalgie«). Weil die deutsche Vereinigung von keiner Gerechtigkeitsforderung, keiner Sozialismus-Utopie gestört werden sollte. »Fortan glich der Osten dem Igel, an dem sich die Schlange verschluckt hat«, schreibt Gunnar Decker.
Gunnar Decker: Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR. Aufbau, 432 S., geb., 28 €. nd-Literatursalon mit Gunnar Decker am 7. Okt., 18 Uhr, im Haus am Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.

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