Plötzlich voller Spielfreude

Zwischen Erfolg und Corona: Trainer Schewtschenko tut DFB-Gegner Ukraine gut

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.

Ohne die Spieler von FC Bayern und RB Leipzig verspielte die DFB-Elf beim Freundschaftsspiel gegen die Türkei am Mittwoch gleich dreimal die Führung, zuletzt in der Nachspielzeit, und musste sich mit einem 3:3 zufrieden geben. In Köln verzichtete der Bundestrainer Joachim Löw bis auf Emre Can auf seine Stammspieler und testete gezielt die Alternativen. Am Samstag spielt Deutschland nun in Kiew im Rahmen der Nations League gegen die Ukraine. Löws Amtskollege Andrij Schewtschenko muss sich dabei Sorgen anderer Art um seinen Kader machen.

Auch die Ukraine testete am Mittwoch gegen Frankreich. Für Co-Trainer Olexander Schowkowskyj, wurde dieses zu einer aufregenden Angelegenheit. Ende 2016 hatte er seine Karriere als Torwart beendet - legendär sein Auftritt bei der WM 2006 im Elfmeterschießen gegen die Schweiz, wo er für den Einzug ins Viertelfinale sorgte. Weil Chefcoach Schewtschenko aber Anfang der Woche nach mehreren Coronafällen plötzlich nur noch einen Torwart im Kader hatte, musste Schowkowskyj als Ersatztorwart nachnominiert werden. »Seit Anfang 2018 habe ich im Tor nicht mehr gespielt - und wollte es ehrlicherweise auch nie wieder«, sagte der 45-Jährige. »Das Leben hat aber eigene Pläne.« Spielen musste er letztlich nicht, der Ex-Keeper von Dynamo Kiew blieb auf der Bank.

Die Vorgeschichte: Am Sonntag hatte Schachtar Donezk (vor kurzem Halbfinalist der Europa League) positive Coronatests bei Torhüters Andrij Pjatow sowie Mittelfeldspieler Taras Stepanenko gemeldet. Neben Pjatow und Stepanenko sollten sechs weitere Schachtar-Spieler ins Nationalteam berufen werden. Mindestens bis Donnerstag bleiben sie nun in der Selbstisolation. Wenn ein zweiter Test negativ bleibt, dürfen sie am Samstag gegen Deutschland auflaufen.

Als die Nationalelf in Frankreich angekommen war, wurden zudem positive Testresultate zweier weiterer Torhüter und des Teamkochs bekannt. Die restliche Mannschaft wurde vor Ort komplett getestet - allesamt negativ. Im Spiel führten die Ausfälle der Schachtar-Spieler zu schweren Defensivproblemen, die Weltmeister Frankreich gnadenlos ausnutzte. Besonders schlecht spielte die Ukraine bei der Rekordniederlage von 1:7 nicht, wie Statistiken belegen. Trotzdem wurden schlicht zu viele Fehler gemacht.

Formell folgte diese Pleite auf ein 0:4 gegen Spanien in der Nations League. Von einer Krise kann dennoch keine Rede sein - nicht nur, weil die Ukraine zuvor im Auftaktspiel die Schweiz 2:1 besiegt hatte. Seit Andrij Schewtschenko, Europas Fußballer des Jahres 2004 und Stürmeridol beim AC Mailand, vor vier Jahren vom Co-Trainer zum Cheftrainer aufstieg, läuft es gut. So erreichte sein Team zum Beispiel den Aufstieg in die Liga A der Nations League.

Viel bedeutsamer war jedoch der fulminante Auftritt der Ukrainer in der EM-Qualifikation. Dort wurden sie sogar Gruppensieger, holten vier Punkte gegen Titelverteidiger Portugal und zeigten beim 5:0 gegen Serbien eines der besten, wenn nicht sogar das beste Spiel seit ihrem Bestehen.

Der Schlüssel für diese Erfolge ist eine 180-Grad-Wendung in Sachen Spielphilosophie. Als Schewtschenko noch Co-Trainer war, spielte die Mannschaft ausschließlich defensiven Fußball, etwa bei der enttäuschenden EM 2016. Heute glänzt die Ukraine mit Kreativität. »Schewtschenko lässt uns einfach spielen und das ist gut so«, umschreibt es Mittelfeldspieler Ruslan Malynowskyj, einer der begabtesten Ukrainer, der bei Atalanta Bergamo in Italien sein Geld verdient.

Neuerdings sind die Ukrainer mutiger: Auch gegen stärkere Gegner sucht das Team sein Glück im Angriff. Dafür muss man allerdings auch das nötige Personal haben. Neben Malynowskyj kann der 44-jährige Trainer auf altbewährte Kräfte wie den Ex-Dortmunder Andrij Jarmolenko zurückgreifen, aber auch auf neue Stars wie den diesmal verletzt fehlenden Olexander Sintschenko (Manchester City) oder Mykola Schaparenko (Dynamo Kiew). Die Stärke der Mannschaft liegt im kreativen Mittelfeld, so auch beim ukrainischen U20-Team, das im vergangenen Jahr in Polen überraschend Weltmeister wurde.

Neben den Erfolgen von Schachtar und den beiden Nationalmannschaften hat auch Dynamo Kiew 2020 zum ersten Mal seit vier Jahren den Einzug in die Gruppenphase der Champions League geschafft. »Wir kämpfen mit vielen Problemen, der ukrainische Fußball schlägt sich aber beachtlich«, sagt Andrij Schewtschenko. Tatsächlich ist die ukrainische Liga spätestens seit dem Ausbruch des Ostukraine-Krieges 2014, der bisher mehr als 13 000 Menschenleben gekostet hat und den Umzug von einigen Vereinen wie Schachtar verursachte, finanziell angeschlagen.

Dennoch sieht es so aus, als wäre die Ukraine bei der EM-Endrunde 2021 keineswegs chancenlos gegen die Gruppengegner Niederlande und Österreich. »Wir sind keine absolute Topmannschaft. In bester Form können wir aber einiges«, betont Schewtschenko. Vor dem Spiel gegen Deutschland fehlt ihm allerdings noch Klarheit, wer überhaupt auf den Platz darf. Im Hintergrund läuft dabei eine Diskussion über das medizinische Konzept der heimischen Liga, demzufolge die Teams nur alle zwei Wochen getestet werden. Das finden viele suboptimal, zumal die Ukraine in Sachen Corona seit Wochen Rekordzahlen verzeichnet und am Mittwoch zum ersten Mal mehr als 5000 neue Fälle an einem Tag registrierte. Dennoch sollen am Samstag rund 21 000 Zuschauerplätze im Kiewer Olympiskyj-Stadion besetzt werden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -