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»Vorkehrungen sind nicht getroffen worden«
Berlins Vizesenatschef Klaus Lederer (Linke) wirft der SPD vor, strukturelle Probleme in der Coronakrise nicht angepackt zu haben
Der Senat hat eine neue Infektionsverordnung erlassen, die am Samstag in Kraft getreten ist. Sperrstunde, Ausgangssperre mit Ausnahmen und Demonstrationsverbote zu Beginn der Seuche: Die Maßnahmen des rot-rot-grünen Senats zur Eindämmung der Corona-Pandemie erinnern einige an Maßnahmen von Militärjuntas. Wie können Sie das als Linker mittragen?
Die Pandemie erreichte uns im März, und kaum jemand wusste irgendetwas Konkretes über das Virus. Klar war nur: Wenn Infektionsketten nicht unterbrochen werden, dann werden die Kapazitäten der intensivmedizinischen Betreuung völlig überlastet. Alle hatten die furchtbaren Bilder aus Italien vor Augen, wo es ja Triage-Situationen gab. Inzwischen gab es einen Lernprozess, differenzierter mit den Maßnahmen umzugehen, deshalb stehen wir heute an einem anderen Punkt.
Das heißt, die Faktenlage ist heute eine andere, dennoch legitimiert sie solche schwerwiegenden Eingriffe?
Ich finde den Bürgerrechtsdiskurs in der demokratischen Linken extrem wichtig. In diesen Debatten kommt der Pandemiefall jedoch nicht vor, weil die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe, bereits 100 Jahre zurückliegt. Der Verfassungspositivismus ist vor dem Hintergrund anderer Gefahren entstanden, nämlich vor überbordender Staatlichkeit, die Grundrechte massiv verletzt und Menschenrechte stranguliert, wenn es keine Gegengewichte gibt. Eine Pandemie ist eine Situation, die zwar nicht unmittelbar menschlich verursacht ist, aber ein gesamtgesellschaftliches Handeln erfordert. Die begrenzte Außerkraftsetzung von Grundrechten ist angesichts der Bedrohung für Menschenleben nicht nur legitim, sondern notwendig.
Ist denn eine Sperrstunde ein geeignetes Instrument, die Pandemie zurückzudrängen? Wurden auch andere Optionen diskutiert, gar weitergehende Maßnahmen?
Clusterausbrüche, wie zu Beginn, sind mittlerweile die Ausnahme. Das Gros der Ansteckungen findet aktuell in der Breite der Bevölkerung statt – auch durch Urlaubsrückkehrer, den Schulbeginn etc. Wenn man verhindern will, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt, bei dem Demonstrationen oder Gottesdienste untersagt und Schulen lahmgelegt werden, dann kann man nur an die Vernunft appellieren und muss Maßnahmen auflegen, die verhindern, dass es zu Ansteckungen kommt.
Das hat zur Folge, dass Clubs, Bars und Kneipen nicht mehr öffnen können.
Die Clubbetreiberinnen und -betreiber handeln – nach meiner Wahrnehmung – höchst verantwortlich und wollen gar nicht öffnen.
Dennoch hat man bei Rot-Rot-Grün – insbesondere bei der SPD – manchmal den Eindruck, dass die feiernden jungen Menschen und Raver der Staatsfeind Nummer Eins in der Pandemie sind.
Ich halte das für komplett daneben und bin dem entschieden entgegengetreten. Genauso wie dem pauschalen Verantwortlichmachen einzelner Bevölkerungsteile für die Ausbreitung der Pandemie. Die Schließung von Bars und Kneipen ist ein Instrument. Ein weiteres wichtiges ist eine andere, eine zielgruppenspezifische Art der Ansprache, wie man sich wirklich verantwortlich verhält. Darauf habe ich immer wieder gedrängt. Außerdem müssen die Infektionsketten konsequent nachverfolgt werden, dafür bräuchte es mehr Personal.
Das heißt, der Öffentliche Gesundheitsdienst ist nicht mehr in der Lage, die Ausbreitung nachzuvollziehen?
In einzelnen Gesundheitsämtern sind die Grenzen des Machbaren erreicht: Das Testgeschehen, die Benachrichtigungen und das Tracking dauern einfach zu lange. Das sorgt für Verunsicherung. Auch in den Ordnungsämtern ist die Grenze der Kontrollmöglichkeiten erreicht. Wir müssen diese Behörden stärken.
Geht es Ihnen nur um eine Signalwirkung? Kontrollieren lässt sich das ja eh nicht.
Sie können nicht Tausende gastronomische Einrichtungen nach 23 Uhr überprüfen. Erst recht gilt das für die privaten Bereiche. Unsere Vorgaben treffen jetzt leider auch viele, die sich an die Hygiene- und Abstandsregeln gehalten haben. Aber es gab eben auch die, die sich unverantwortlich verhalten haben.
Angesichts der ständig wechselnden Regeln kann man auch leicht den Überblick verlieren, was eigentlich gilt.
In der Koalition glauben manche, dass bei härteren Regeln jede Woche eine Schippe draufgelegt werden muss. Ich glaube nicht, dass damit der Effekt erzielt werden kann, sich besser an die Regeln zu halten. Das ist nicht der Weg, einen Lockdown zu vermeiden. Eine Rundumüberwachung gehört nicht zu meiner Vorstellung von freiheitlicher Staatlichkeit. Wir haben ein gesamtstädtisches Problem, das alle betrifft, dass sich allein mit staatlichen Regelungen und Gesundheits- und Ordnungsämtern nicht lösen lässt.
Trotzdem wird der Senat von Berlin derzeit aus der ganzen Republik mit Schmähkritik überschüttet und dafür verantwortlich gemacht, dass er das Infektionsgeschehen außer Kontrolle geraten lässt. Wie bewerten Sie das?
Das ist das berühmte Hauptstadtbashing, das es seit ewig gibt. In allen Großstädten gibt es leider stark ansteigende Infektionszahlen. Das haben uns die Experten für den Herbst vorhergesagt. Natürlich entwickelt sich die Dynamik in urbanen Räumen anders als im ländlichen Raum. Deswegen hilft jetzt weder Behörden-Pingpong zwischen einzelnen Bezirken und Senat noch Schmähkritik an einzelnen Bundesländern aus dem Bund. Wer noch vor Wochen breitbeinig in Talkshows saß, statt sich darum zu kümmern, die entsprechenden Pandemie-Vorkehrungen zu treffen, und jetzt genauso dasteht wie Berlin, muss uns keine klugen Ratschläge erteilen.
Sie meinen den Freistaat Bayern, aus dessen Landesregierung Berlin zuletzt stark kritisiert wurde?
Das ist korrekt.
Überraschend kommt der neuerliche Anstieg bei den Infektionen nicht, Virologen und Epidemiologen haben seit Monaten davor gewarnt. Hat der Senat denn selbst seine Hausaufgaben gemacht?
In den vergangenen Monaten hätte an manchen Stellen mehr passieren müssen – ganz klar. Das haben wir im Senat auch thematisiert. Deshalb hat es den Gipfel zwischen Senatsspitzen und den Bezirken gegeben. Jetzt ist die Herausforderung, dass überall in der Berliner Verwaltung realisiert wird, dass der Krisenfall existiert und dass jetzt schnell und unbürokratisch – jenseits von eingefahrenen Ritualen – die Probleme gelöst werden. Nur dann wird es gelingen, dass wir »vor der Welle« bleiben.
Wo hätte man in den vergangenen Monaten besser präventiv reagieren müssen?
Im Kulturbereich haben wir sehr intensiv daran gearbeitet, unsere Kultureinrichtungen coronafest zu machen. Sie können heute relativ bedenkenfrei in eine Oper, ein Theater oder ein Konzert gehen. Aber in anderen Bereichen sind strukturelle Probleme nicht wirklich angefasst worden.
Welche Bereiche meinen Sie?
Es wurde nicht die Raumvorsorge betrieben, die man braucht, um zusätzlich benötigtes Personal unterzubringen. Es wurde nicht die IT-Ausstattung vorbereitet, die man für zusätzliche Arbeitsplätze im Homeoffice benötigt. Manche Gesundheitsämter mussten zwangsläufig wieder runtergefahren werden, weil das Personal nur zeitweise dafür abgeordnet war. Das kann man sich in der Pandemie-Situation nicht leisten.
Hat die zuständige Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) ihren Job gemacht?
Angesichts des erwartbaren Szenarios sind Vorkehrungen nicht getroffen worden, die hätten getroffen werden müssen. Punkt.
Die Konsequenzen aus der schlechten Vorbereitung auf den Ernstfall muss jetzt das Berliner Nachtleben ausbaden, das weltweit berühmt geworden ist. Da droht doch jetzt ein Kahlschlag sondergleichen, oder?
Wir haben für den Kulturbereich gute Absicherungen gefunden. Meine Kollegin, Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne), sucht jetzt nach schnellen Möglichkeiten, um den betroffenen Gastronomen unter die Arme zu greifen. Als Senat sind wir in der Pflicht, denjenigen helfen, die jetzt hart betroffen sind, damit sie nicht pleitegehen. Es braucht also neue Soforthilfen.
Wie sollen diese aussehen?
Wir brauchen für das nächste Jahr ein Programm zum Wiederhochfahren der Kulturbetriebe. Bereits jetzt haben wir für die kleinen Theater und Varietés Unterstützungen zur Verfügung gestellt. Wir haben ein Rahmenhygienekonzept erarbeitet, das eine gestaffelte Öffnung ermöglicht, wir unterstützen die Kulturbetriebe bei der Aufrüstung von Lüftungsanlagen, wir unterbreiten auch Liquiditätshilfen für Kultureinrichtungen, die bislang noch nie öffentliche Mittel bekommen haben, jetzt aber auf Unterstützung angewiesen sind …
... Für die Clubs gibt es keine Perspektive.
So hart es ist: Das Geschehen in den Clubs ist etwas, das man nicht coronakonform gestalten kann. Das wissen die Clubbetreiberinnen und Clubbetreiber auch. Da bleibt uns nur die Möglichkeit, solange zu helfen, bis die Pandemie vorbei ist, damit sie dann wieder durchstarten können.
Das Kerngeschäft der Clubs, das exzessive Feiern, ist ohne Impfstoff nicht denkbar.
Vielleicht gibt es irgendwann auch Testmöglichkeiten, die verhindern, dass sich Menschen, die infektiös sind, in Räumen aufhalten. Soweit sind wir aber noch lange nicht. Logisch, ein Impfstoff oder eine noch nicht ersichtliche Teststrategie wären eine Lösung. Bis dahin müssen wir die Clubs liquide halten.
Es drängt sich der Eindruck auf, die Zeit Berlins als Kulturmetropole und als Feierhauptstadt ist zu Ende. Ist dem so?
Die Kulturangebote sind lebendig und lebendiger denn je. Wir haben in den vergangenen Jahren Kulturräume gesichert und neue Förderungen auf den Weg gebracht. Auch in der Pandemie entwickeln sich beispielsweise bei der Art Week völlig neue Kooperationen und Allianzen. Ähnliche positive Entwicklungen gibt es im Theaterbereich und bei den Orchestern. Der Abgesang auf Berlins Kulturszene ist immer wieder angestimmt worden, und er war immer falsch.
Bei einigen hat der Wahlkampf bereits begonnen. Müssen Sie als Spitzenkandidat nicht noch stärker die gesamte Stadt in den Blick nehmen? Denn in der Pandemie hat sich das Mobilitätsverhalten geändert, die Menschen brauchen auch verstärkt Angebote in den Vororten. Was meinen Sie?
Ich bin noch nicht Spitzenkandidat – meine Bereitschaft braucht das Votum der Berliner Genossinnen und Genossen. Aber ja: Mein kultureller Fokus hat immer die Gesamtstadt im Blick und niemals nur das Zentrum. Das war auch in Zeiten so, als das Wachstum der Metropole gepredigt wurde. Das betraf Bibliotheken, Musikschulen und kulturelle Angebote vor Ort, etwa die Stärkung der kommunalen Galerien.
Als Kultursenator waren Sie wegen Ihres ganzheitlichen Ansatzes sehr beliebt. Hat die Pandemie das nicht sehr beeinträchtigt, weil Sie jetzt auch eine viel größere Verantwortung tragen?
Ich habe mich in der Pandemie darum gekümmert, dass im Umgang mit ihr Rationalität in der Koalition herrscht. Die zweite Aufgabe war, meine kulturpolitische Agenda zur Sicherung der Kultureinrichtungen zu verfolgen.
Sie haben mal gesagt, Rot-Rot-Grün wird daran gemessen, ob man in Berlin ohne Ängste, ohne Existenzängste, ohne Absturzängste leben kann. Gilt das noch?
Der Anspruch bleibt, da sind wir in den vergangenen vier Jahren ordentlich vorangekommen. Die Pandemie wirft als globales Phänomen alles überall über den Haufen. Wir versuchen seit März, alles fortzuführen, wofür wir angetreten sind, und parallel dazu, die sozialen Auswirkungen der Pandemie abzudämpfen. Mit Blick auf die Wahl im Herbst 2021 ist es nicht verkehrt, mehr auf die Gemeinsamkeiten zu schauen und konzentriert zu arbeiten – damit wir weitermachen können. Im Übrigen funktionieren Wahlkampf und Pandemiebekämpfung nicht gleichzeitig.
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