Bei Manipulation gehen wir auf die Straße

Die Gemeinschaftsarbeiterin Iveth Savaria sieht die Bewegung zum Sozialismus wieder im Aufwind

  • Thomas Guthmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer wird die Präsidentschaftswahlen gewinnen? Was glauben Sie?

Wir sehen drei Möglichkeiten. Die erste ist, die Bewegung zum Sozialismus (MAS) gewinnt die Wahl. Die Kampagne der MAS war die bei weitesten kraftvollste, überall im Land gelang es ihr, die Massen zu mobilisieren. Viele, die im vergangenen Jahr nicht die MAS wählten, werden sie nun wieder wählen. In diesem Fall ist die Frage, ob die Regierung dieses Wahlergebnis respektieren würde. Ich halte das für utopisch. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Regierung eine zweite Runde erzwingt. Wenn es dabei zu einer Manipulation kommt, wird es massive Proteste geben. Bei der Aufhebung der Blockaden im August haben die Leute gesagt: »Wir sind in Alarmbereitschaft, wenn es zu einer Manipulation kommt, sind wir auf der Straße.« Wenn es dazu kommt, wird es dieses Mal eine viel schärfere Auseinandersetzung geben, als bisher. Die Leute sind sehr entschlossen. Die dritte Möglichkeit, die ich sehe, ist eine Militarisierung des Landes durch die jetzige Regierung.

Dass Ex-Präsident Carlos Mesa die Wahl gewinnen könnte, sehen Sie nicht?

Das glaube ich nicht. Wenn man die Umfragen sieht, reicht es für ihn nicht. Viele, die im vergangenen Jahr noch für ihn gestimmt haben, haben sich jetzt umentschieden. Aber viele sagen das nicht öffentlich.

Sie leben in Senkata. Dort fand 2019 ein Massaker statt, als Sicherheitskräfte auf Demonstranten*innen schossen, die wegen des erzwungenen Rücktritts von Evo Morales die Zufahrt zu einem Treibstofflager blockierten. Wie war die Situation dort während des Lockdowns?

Zu Beginn der Maßnahmen gegen Covid-19 behaupteten viele Medien, dass die Bewohner*innen von El Alto, vor allem in Senkata, die Hygienemaßnahmen nicht beachten würden. Das stimmte nicht. Die ersten beiden Wochen des Lockdowns war in Senkata kaum einer draußen, es gab nur wenige, die auf der Straße ihre Waren verkauften. Die Polizei verhielt sich dennoch sehr feindselig gegenüber den Bewohnern Senkatas während der Corona-Maßnahmen. Mehrmals kamen zehn, zwölf Panzerwagen im Konvoi angefahren, mit Sirenengeheul, um die Bewohner*innen zu bedrohen. Für viele war das eine Retraumatisierung nach dem Massaker im November vergangenen Jahres. Die Leute gingen nach einiger Zeit trotzdem raus. Viele sagten, »entweder verhungert man oder man stirbt am Coronavirus, also werde ich so oder so sterben, ich muss mich um meine Kinder kümmern.«

Was hat ihr Kulturzentrum Inti Phasji im Lockdown gemacht?

Inti Phasji hat mit dem Netzwerk Cultura Viva Comunitaria ungefähr 600 Familien mit Lebensmittel unterstützt. Dabei wurde klar, dass viele tagelang ohne Essen waren, oder wochenlang nur Kartoffeln aßen. Viele versuchten, ihr Hab und Gut zu verkaufen, um sich irgendwas zu essen kaufen zu können.

Im August kam es zu massiven Protesten und Straßenblockaden in Senkata und ganz Bolivien. Was stand zur Debatte?

Senkata war schon immer der Bezirk in El Alto gewesen, dessen Bewohner häufiger auf die Straße gingen, zum Protestieren. Das war nicht nur gegen die aktuelle Regierung so, sondern auch gegen die Regierung Evo Morales. Meistens ging es darum, sich für ein besseres Gesundheitssystem, sich für bessere Schulen, oder für eine ausreichende Wasserversorgung einzusetzen. Nach dem Rücktritt von Morales 2019 gingen die Leute auf die Straße, weil sie befürchteten, dass das Wenige, das sie erreicht hatten, die Sozialhilfe, die Schulen, der soziale Wohnungsbau, dass diese kleinen Errungenschaften verschwinden würden. Evo war für die Einwohner der Garant dafür gewesen. Viele sehen ihn als einen der ihren. Es gab mehr Bildungsgerechtigkeit, auch Familien aus Senkata konnten ihre Kinder auf die Universität schicken, das war vorher nicht so. Deswegen kam es nach seinem Abgang hier zu einem Bündnis der verschiedenen Akteure, der Nachbarschaften, der Händler und der Schulräte. Das hat den Protest gegen die rechte Regierung sehr gestärkt. Das war im August 2020 spürbar.
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