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- Obdachloseneinrichtungen in Berlin
Viren oder frieren
Mit sinkenden Temperaturen werden Obdachloseneinrichtungen zu Hotspots
Sonia und Cassiopeia sitzen im Wohnzimmer von »Mitten im Kiez«, einer Friedrichshainer Notunterkunft der Arbeiterwohlfahrt für Frauen, und trinken Kaffee. Mit Beginn der kalten Jahreszeit blicken die beiden obdachlosen Frauen, die ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, besorgt auf die kommenden Monate. »Es gibt zwei Gründe, warum die Leute nicht draußen sein sollten: Wir haben eine Pandemie und es ist kalt«, sagt Sonia. Sie wünscht sich mehr Räume, in denen sie sich tagsüber aufhalten kann. »Frauen über 50 können sterben, wenn sie sich da draußen mit Corona anstecken«, sagt die Frau, die aussieht, als könnte sie zu dieser Gruppe dazugehören.
Trotzdem muss sie wieder raus, denn »Mitten im Kiez« bietet nur Notfallschlafplätze, keinen Tagesbetrieb. Die kleine Unterkunft hat seit der Pandemie nur noch acht statt der ursprünglichen elf Plätze. Die Frauen sind in Doppelzimmern untergebracht, obwohl diese Art der Unterbringung die Ansteckungsgefahr mit dem Virus Sars-CoV-2 erhöht. »Es geht nicht anders«, sagt Britta Marré, die Co-Leiterin der Einrichtung. Es fehle schlicht an Räumen für die Einzelunterbringung und an Personal, um auch tagsüber zu öffnen.
Auch Cassiopeia ist, seit sie aus ihrer Wohnung geräumt wurde, auf die Unterbringung in Notunterkünften angewiesen. »Ich war vor Corona tagsüber viel in Bibliotheken«, sagt sie. Das sei nun schwierig, auch sei sie erschöpft davon, jeden Tag aufs Neue fragen zu müssen: »Wo kann ich heute hin?«
Sozialarbeiterin Marré verweist auf ein weiteres Problem der angebrochenen Kältehilfesaison: »Wir sind angewiesen, Menschen mit Symptomen nicht aufzunehmen. Wie sollen wir das machen?« Es sei schwierig, Corona-Symptome von Grippe- oder Erkältungssymptomen zu unterscheiden, und Menschen, die auf der Straße leben, erkälteten sich natürlich viel schneller.
Wohnungsloseninitiativen setzen sich seit Monaten für eine pandemiegerechte und menschenwürdige Unterbringung ein, so etwa »Leave No One Behind Nowhere - Bündnis für wohnungslose und obdachlose Menschen mit und ohne Flucht- und Migrationsgeschichte«. Ihre wichtigste Forderung: »Massenunterkünfte gehören abgeschafft«, sagen Bahar Sanli und Dirk Dymarski, die in dem Bündnis aktiv sind.
Bereits im Sommer war absehbar, dass mit der Kälte eine zweite Welle kommen würde. Gerade deshalb kann Sanli nicht verstehen, dass keine Alternativen zu Massenunterkünften geschaffen wurden. »Es gab immer wieder den Hinweis: Solange es keinen Impfstoff gibt, kann die Kältehilfe nicht unter diesen Bedingungen fortgeführt werden.« Durch die Unterbringung von vielen Menschen auf engem Raum würden die Unterkünfte zu Corona-Hotspots, sagt Sanli.
Auch die Diakonie fordert besseren Infektionsschutz in Kältehilfeeinrichtungen. »Dafür sind zusätzliche Unterkünfte, mehr Personal und die entsprechende Ausrüstung notwendig«, sagt Maria Lohheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Besonders wichtig seien Isolations- und Quarantänemöglichkeiten für den Ernstfall.
Bisher gibt es 522 Plätze in den Notübernachtungen der Hauptstadt, 500 weitere Plätze werden im November dazukommen, sagt Christin Fritzsche, Sozialarbeiterin in der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe. »Die Abstandsregeln können durch Reduzierung der vorhandenen Platzzahlen in den Einrichtungen besser umgesetzt werden«, so Fritzsche. Trotzdem müssten die Menschen größtenteils in Zwei- oder Mehrbettzimmern untergebracht werden. Auch gebe es etwa genauso viele tagsüber geöffnete Einrichtungen wie im Vorjahr. »Es haben sich allerdings die Kapazitäten in den Innenräumen stark reduziert, so dass sich weniger Menschen gleichzeitig in den Räumlichkeiten aufhalten können«, sagt Fritzsche.
Die Senatsverwaltung für Soziales unter Senatorin Elke Breitenbach (Linke) verweist gegenüber »nd« darauf, dass die Kältehilfe in die Zuständigkeit der Bezirke falle. »Die Senatssozialverwaltung unterstützt, wo sie kann, sie kann aber weder Kältehilfeeinrichtungen in den Bezirken festlegen, noch dafür Geld beantragen«, sagt Breitenbachs Sprecher Stefan Strauß.
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