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Ums Überleben fahren
Schon der Auftakt der alpinen Skisaison entscheidet über die Zukunft.
Stufen führen in die Tiefe, dorthin, wo von zwei verschiedenen Seiten gleich Menschen aufeinandertreffen, die sich eigentlich nicht begegnen sollen. Noch einen langen Gang entlang, vorbei an Abstellplätzen für Autos und einmal um die Ecke, dann nähern sich auch schon drei Männer und vier Frauen in einheitlichen Skijacken und mit schwarzem Mund-Nasen-Schutz. Ein wenig erinnert diese skurrile Szene an einen Agententhriller mit konspirativen Treffen im Untergrund. Nun mag sich Sölden ja auskennen mit diesem Genre, schließlich war die Gemeinde im Ötztal Drehort des James-Bond-Streifens »Spectre« - aber in der verwinkelten Tiefgarage des Hotels wird kein Film gedreht, sondern es ist die vom Veranstalter des alpinen Skiweltcups eingerichtete Interviewzone für diesen ganz besonderen Auftakt in die neue alpine Saison.
Beim Pressetermin des deutschen Teams muss niemand Sorge haben, dass die Abstandsregeln nicht eingehalten werden. Nur zwei Fernsehteams und zwei Journalisten sind hierher gekommen. »Strange« - seltsam, findet Lena Dürr. Die Skirennläuferin aus Germering ist bereits zum neunten Mal in Sölden dabei und startet an diesem Sonnabend als eine von vier deutschen Athletinnen im Riesenslalom. »Es ist so ruhig hier.« Nicht nur in der Tiefgarage meint sie, vor allem im Ort.
In den Tagen vor den ersten Skirennen herrscht in Sölden normalerweise rege Betriebsamkeit. Die ersten (Party-)Touristen sind schon angekommen, stimmen sich in einschlägigen Après-Ski-Kneipen, die hier »Bierhimmel«, »Hasenstall« oder »Rodelhütte« heißen, auf das Wochenende ein. Die Skifirmen präsentieren ihre Athleten, dicht gedrängt in Sportgeschäften oder bei Pressekonferenzen. Und auf der Straße hinauf nach Sölden geht es bereits ab Donnerstagnachmittag nur noch im Schritttempo vorwärts.
Jetzt sind »Bierhimmel«, »Hasenstall« und »Rodelhütte« geschlossen. Viele Hotels ebenfalls und zwei der drei Supermärkte. Touristen sind so gut wie keine hier oben im Ötztal. Die Athleten und Athletinnen sollen die Hotels nur im Auto verlassen, zur Fahrt rauf auf den Gletscher oder eben zum Medientermin in die Tiefgarage. Ähnlich ergeht es Journalisten, Vermarktern, Serviceleuten - all jenen, die den Skiweltcup begleiten. In dieser Saison ist es nicht so einfach. Wer dabei sein will, muss getestet sein, darf nur dort essen und wohnen, wo es die Veranstalter erlauben. Alle Gruppen sind streng getrennt. Das mit dem Test, der nicht älter als 72 Stunden sein darf, kann man notfalls auch noch vor Ort erledigen - für 85 Euro in einem Labor auf Rädern, das an der Gondelbahn steht. Nach drei Stunden ist das Ergebnis da, meistens jedenfalls.
Der Saisonauftakt in Sölden mit dem verschärften Hygienekonzept ist so etwas wie ein Probelauf - und die Tiroler sowie der Skiweltverband Fis sind darauf bedacht, dass auch wirklich nichts schiefgeht. Der Weltcup, die Rennen sind »existenziell« für den gesamten Skisport, erklärt Wolfgang Maier, Alpinchef im Deutschen Skiverband (DSV). Denn nach einem Winter ohne Weltcup würde es 80 bis 90 Prozent der Verbände nicht mehr geben, ist er sicher. Er weiß: »Man kämpft ums Überleben.« Zumal die Corona-Auflagen für die Verbände zusätzliche finanzielle Aufwendungen bedeuten. Der DSV veranschlagt in diesem Winter allein für die Testmaßnahmen in allen Disziplinen rund 1,2 Millionen Euro. Die Sportler müssen im Drei-Tage-Rythmus auf dem Weg von einem Weltcup zum anderen getestet werden. Das ist schon eine große logistische Herausforderung. Der Verband arbeitet deshalb mit der Technischen Universität München an einem Konzept, »wie die Tests in die geforderten Labore gebracht werden, um die engen Fristen einzuhalten«, erzählt Maier.
Die Athletinnen und Athleten spielen mit, ohne zu murren, was bleibt ihnen auch anderes übrig. »Hauptsache«, sagt Lena Dürr, »wir können fahren.« Am Sonnabend und Sonntag soll also der Sport wieder im Fokus stehen - bei den ersten Rennen seit Mitte März. Damals war die Saison eine Woche vor dem Finale abgebrochen worden.
Der neue Winter beginnt vor allem bei den deutschen Frauen mit einem Einschnitt. Mit dem Rücktritt von Viktoria Rebensburg fehlt dem Team nun eine Siegfahrerin. »Die Erwartungen«, sagt Cheftrainer Jürgen Graller, »sind jetzt natürlich andere.« Niedrigere, meint er. »Aber es kann auch eine Riesenchance sein.« Für diejenigen, die bisher im Schatten der Olympiasiegerin von 2010 standen - wie Kira Weidle, die in der Abfahrt immerhin schon ein paar Podestplätze erreicht hat. Im Riesenslalom dagegen sieht es noch etwas düster aus. Dürrs Stärken liegen eher im Slalom. Und die anderen drei Starterinnen, Jessica Hilzinger, Andrea Filser und Debütantin Lisa Loipetssperger, stehen gerade am Beginn ihrer Weltcup-Karriere.
Maier aber ist zuversichtlich, dass sie die drei jungen Athletinnen sowie die gerade erst von einem Kreuzbandriss kurierte Marlene Schmotz und die verletzte Martina Willibald in den nächsten Jahren zu Top-Ten-Fahrerinnen entwickeln können. »Das heißt nicht, dass wir ad hoc mit Mikaela Shiffrin konkurrieren können, aber das Potenzial, dagegenzuhalten, haben wir auf alle Fälle.« Die US-Amerikanerin Shiffrin fehlt in Sölden wegen ihres lädierten Rückens. Favoritinnen sind Italiens Gesamt-Weltcup-Gewinnerin Federica Brignone und die Slowakin Petra Vlhova.
Die deutschen Männer starten am Sonntag mit Stefan Luitz, Alexander Schmid und Nachwuchsfahrer Fabian Gratz aussichtsreicher in die Saison. Luitz hat immerhin schon einen Riesenslalom gewonnen. Allerdings war Sölden bisher nicht sein Terrain, besser als Platz 18 war er hier noch nie. Aber in diesem Winter, so verspricht der Allgäuer, soll es einen neuen alten Stefan Luitz geben. Er wolle »wieder ein bisschen die Drecksau« sein. Wie früher, als er frech durch die Tore carvte. Oft so frech, dass es nicht ohne Malheur abging, aber eben manchmal auch erfolgreich. Dann kamen ein paar schwierige Jahre mit Verletzungen, einem zunächst aberkannten, dann am grünen Tisch zurückerkämpften Weltcupsieg und letztlich die Beförderung in die Rolle des Leitwolfs im Technikteam nach Felix Neureuthers Rücktritt. Da habe er »einen Schritt zurückgemacht«. Jetzt wolle er wieder zum Überholen ansetzen. Vielleicht nicht gleich alle Konkurrenten, da werden Henrik Kristoffersen, der Vorjahresbeste im Riesenslalom, oder auch Alexis Pinturault, etwas dagegen haben. Aber es wäre ja schon gut, wenn ihm das gelänge, was er vorhat.
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