Die Unerreichbare

Eine neue Biografie würdigt das Leben von Susan Sontag.

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Journalist Jonathan Cott hat Susan Sontag im Jahr 1978 gleich zweimal ein paar Stunden lang interviewt. An einer Stelle spricht sie von der »Bürde des Werkes«, das sie geschaffen habe. Das lasse bei ihr den Wunsch aufkommen, noch einmal von vorne anzufangen - unter Pseudonym. Aber ach, vergeblich, das Publikum würde den Braten ja doch riechen: »Das kann nur Susan Sontag geschrieben haben.«

Früh verliert Sontag ihren Vater. Ihre selbstsüchtige und alkoholkranke Mutter Mildred braucht sie als Komplizin, um den Schein zu wahren und irgendwie durch den Alltag zu kommen. »Keine Details!« Ein volles Wasserglas steht neben ihr, wenn sie Freunde empfängt. Wodka. Danach zieht sie sich ins Schlafzimmer zurück. Susan buhlt um Mildreds Anerkennung, und weil die ausbleibt, bemüht sie sich noch mehr. Zwei ihrer hervorstechenden Charaktereigenschaften - ihr unbändiger, gegen sich und andere rücksichtsloser Ehrgeiz und ihre pathologische Unehrlichkeit - haben ihren Ursprung in dieser problematischen Beziehung. Sie macht die gleichen Fehler bei ihrem Sohn David. Sie lässt ihn ständig allein, vernachlässigt ihn emotional, überfordert ihn intellektuell, überfüttert ihn mit Bildung. Sie drillt ihn früh zu einem Ebenbild: Susan Sontags Sohn.

»Sie war großartig«, sagt ihre Freundin Jamaica Kincaid einmal. »Ich glaube, seit ich Susan kenne, möchte ich nicht mehr großartig sein.« Literatur ist schon früh Sontags letztes Refugium. Sie liest sich durchs Klassiker-Regal der Buchhandlung. Infolge diverser Umzüge ihrer unsteten Mutter hat sie kaum Freundinnen und Freunde. Sie ist die ewige Außenseiterin, die Bücherratte. Selbst auf den Elite-Universitäten, in Berkeley und Chicago, beeindruckt sie die Kommilitonen mit ihren Lektürekenntnissen. Bezaubert sie aber auch mit ihrer Schönheit. Obwohl sich Sontag zu Frauen hingezogen fühlt, was sie Zeit ihres Lebens und ungeachtet diverser Affären vor der großen Öffentlichkeit zu verbergen sucht, erzieht sie sich eine Weile zur Heterosexualität. Sie heiratet mit 17 Jahren den Soziologen Philip Rieff.

Beinahe wäre Sontag in der universitären Wüste versackt. Sie unterstützt ihren Mann bei seiner bedeutenden Studie »Freud: The Mind of the Moralist«. Ihr Anteil ist offenkundig, wenn man Rieffs spätere Werke zum Vergleich heranzieht, trotzdem taucht sie nicht als Autorin auf. Mal abgesehen davon, dass sie auf Frauen steht, ist das eine weitere Sollbruchstelle ihrer Ehe. Die Rolle als wissenschaftliche Hilfskraft befriedigt ihr Verlangen nach Ruhm und Anerkennung ganz und gar nicht. Nach einer Europareise beschließt sie, Schriftstellerin zu werden, trennt sich von Rieff und geht mit ihrem jungen Sohn David nach New York, wo ihr Jacob Taubes eine Stelle als Redakteurin beim konservativen Monatsmagazin »Commentary« vermittelt. Schon bald macht sie sich einen Namen in der Gelehrtenszene der Stadt.

Bei Freud ist es so, dass der Analytiker zum Künstler wird. Der Patient liefert bloß das Material, referiert etwa einen wirren Traum; in der Analyse entsteht die eigentliche Bedeutung. Freud ist das Modell für Sontags spätere Rolle als Kritikerkünstlerin. Sie sagt an, was in den Elaboraten steckt. Mit Selbstbewusstsein, Machtgespür, einem gewaltigen Arbeitspensum und ein paar brillanten kulturtheoretischen Essays, die den Graben zwischen Pop- und Hochkultur ein für allemal einebnen, avanciert sie innerhalb von ein paar Jahren zum Star des New Yorker Intellektuellenzirkels - der »Family«. Sontag besitzt neben ihrer Eloquenz, beinahe universaler Gelehrtheit und analytischem Scharfsinn auch ein gutes Sensorium für Themen, die im Schwange sind: Camp, Pornografie, Happenings, Science-Fiction, Fotografie, Krebs.

Die Inszenierung war Sontag stets genauso wichtig wie intellektuelle Brillanz. Das ist die Lehre der schwulen Camp-Kultur, in die sie schon während ihrer Campus-Zeit fasziniert eintaucht. Das Sein als Theater begreifen, das Leben als Metapher. »Camp sieht alles in Anführungsstrichen: nicht eine Lampe, sondern eine ›Lampe‹; nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹.« Und aus ihr wird, nein, sie macht aus sich: »Susan Sontag«. Es brauchte offenbar etwas mehr als stupende Bildung, Esprit und rhetorische Virtuosität, um sich als Frau in der »Family« durchzusetzen. Noch dazu in den 60ern. Ihr unbändiger Drang, mehr zu leisten als die anderen, mehr zu lesen, zu schreiben und zu denken, raubt ihr den Schlaf. Aber mit Kalkül. Sie nutzt Speed, Dexedrin, Kaffee und Zigaretten, um länger wach zu bleiben und arbeiten zu können. Schlaf wird schließlich zu einem neuralgischen Punkt. Wenn Freunde annehmen, sie habe gerade geruht, reagiert sie empört. Eine »Susan Sontag« hat für so etwas einfach keine Zeit.

Weil die Zeiten politisch sind, wird Sontag es auch. Sie gibt die Frontfrau der Neuen Linken, eine Art Gewissen der Nation, was ihrer Prosa nicht immer guttut. Sie schreibt eine gewaltige Hasstirade gegen die USA und ihren mörderischen Imperialismus, schickt Reportagen aus Hanoi und später auch aus Kuba. Nach ihrer Vietnam-Reise trägt sie eine Weile einen Aluminiumring - gefertigt aus dem Rumpfteil eines abgeschossenen US-amerikanischen Flugzeugs. 1982 erklärt sie auf einer Solidaritätsveranstaltung für die polnische Gewerkschaft Solidarność ihre Abkehr von der linken Orthodoxie. »Kommunismus ist Faschismus - erfolgreicher Faschismus, wenn Sie so wollen«, verkündete sie unter großem Gebuhe der New Yorker Linken. Der ausgebürgerte russische Lyriker Joseph Brodsky hatte ihr das eine oder andere eingeflüstert. Von nun an bewegt sie sich zwischen den ideologischen Linien.

Sontag erkrankt insgesamt dreimal an Krebs. Die ersten beiden Erkrankungen überlebt sie, weil sie sich einer quälenden Chemotherapie unterzieht. Nach dem ersten Mal sind ihre Haare grau. Sie nobilitiert diesen persönlichen Sieg mit einem symbolischen Lorbeerkranz, der Silberlocke, der sie nun auch optisch zur Ikone werden lässt. Am Ende hat sie Leukämie und bietet noch einmal alle Willenskraft auf. Annie Leibovitz fotografiert ihr heroisches Scheitern. Ihr entsetzliches Leid. In den letzten beiden Lebensjahrzehnten nimmt ihr politischer Aktivismus immer mehr Raum ein. Sie setzt sich persönlich für verfolgte Künstler ein, lässt mittellose Dissidenten bei sich wohnen, kümmert sich um ihre Subsistenz. Sie beweist Großzügigkeit und vor allem Mut. Als Salman Rushdie von der Fatwa bedroht wird und viele, auch engagierte Autoren aus Angst vor muslimischem Terror abtauchen, organisiert Sontag eine Solidaritätsveranstaltung. »Ich war froh, dass Susan Präsidentin (des PEN-Zentrums) war und niemand von der ängstlichen Sorte«, bekennt Rushdie später.

Noch gefährlicher ist Sontags Reise ins belagerte Sarajevo während des Bosnienkrieges, um dort mit hungernden, traumatisierten Schauspielern Samuel Becketts »Warten auf Godot« zu inszenieren. Es ist durchaus mehr als Katastrophentourismus, sie bleibt wochenlang und kehrt danach mehrmals wieder; aber die blütenweiße karitative Dimension des Unternehmens bekommt einen Grauschleier durch die absehbare Wirkungslosigkeit und die von ihr betriebene obszöne Selbstverherrlichung im Nachhinein: Tue Gutes und lasse dich dafür in der Hauptsendezeit auf allen Kanälen feiern.

Insbesondere im Biografiegewerbe gilt schon seit einigen Jahren nur ein Buch mit Gewicht auch als gewichtig. Insofern ist Benjamin Mosers »Sontag« die Biografie, die man zurzeit schreiben muss, um den Pulitzerpreis abzugreifen. Nur fragt man sich als Leser ständig: Muss ich das alles wissen? Ist dieser Positivismus aus dem tiefsten 19. Jahrhundert nicht vielleicht auch einem schriftstellerischen Defizit geschuldet, nämlich dem, nicht unterscheiden zu können, was wesentlich ist und was nicht? Oder braucht vielleicht jede Künstlerin vom Rang einer Susan Sontag wenigstens einmal eine solche exorbitant detailpusselige Würdigung? Wenn dem so ist, dann war Benjamin Moser zumindest der richtige Mann, eine solche Biografie zu schreiben.

Benjamin Moser: Sontag. Die Biografie. A. d. amerik. Engl. v. Hainer Kober. Penguin, 928 S., geb., 40 €.

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