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Europäisches Deutschland, deutsches Europa?
In der Mitte des Kontinents erstand das vereinigte Land neu, als habe es den Kalten Krieg gewonnen
Mit dem Ende der Blockkonfrontation rückte die »deutsche Frage« wieder auf die Tagesordnung. Sie hatte stets zwei Gesichter: Für die Deutschen war es die Frage nach der deutschen Einheit, für die anderen Europäer die Gefahr, die von einem mächtigen Deutschland ausging.
Der Autor, Jahrgang 1951, ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist Geschäftsführender Direktor des Welttrends-Instituts für Internationale Politik in Potsdam. Der hier veröffentlichte Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Artikels aus dem Oktoberheft des außenpolitischen Journals »Welttrends«, das einen Schwerpunkt zu 30 Jahren deutscher Außenpolitik enthält.
Zum Weiterlesen: welttrends.de
Der Kompromiss des Jahres 1990 hatte zwei Grundelemente: die Einbindung Deutschlands in die Nato und den Zwei-plus-vier-Vertrag. Bereits Anfang des Jahres 1990 bestanden die USA auf dem Fortbestand der Nato, und zwar in den drei Hauptfunktionen, die sie seit ihrer Gründung hatte: die USA in Europa zu halten, die Russen draußen und die Deutschen unter Kontrolle. Am 9. Februar 1990 holte US-Außenminister James Baker in Moskau die sowjetische Zustimmung zur Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ein. Die Konstruktion des Zwei-plus-vier-Vertrages folgte dem. Er stellte - in Verbindung mit der Einbindung Deutschlands in die Europäische Union und die Nato - eine geschickte Lösung dar, unter der Voraussetzung einer sich abzeichnenden Überlegenheit des Westens und eines Zusammenbruchs des sowjetischen Machtbereichs.
Dass der am Ende auch zum Zerfall der Sowjetunion führen würde, war nicht unbedingt abzusehen. Allerdings hatten die Strategen in Washington entgegen der von Baker in Moskau gemachten Zusage, die Nato nicht über die Oder hinaus zu erweitern, durchaus die Vorstellung, die Grenzen der Nato, auch der EU, in Richtung Osten vorzuschieben.
Der Zwei-plus-vier-Vertrag ist kein erledigter historischer Rahmen, sondern weiterhin geltendes Völkerrecht. Im Artikel 1 wurden die Außengrenzen Deutschlands als mit den Außengrenzen der DDR und der Bundesrepublik Deutschlands identisch festgelegt und Deutschland aufgegeben, die Grenze mit Polen in einem völkerrechtlichen Vertrag zu bestätigen; es erklärte, keinerlei Gebietsansprüche zu haben und solche auch in Zukunft nicht zu erheben.
Im Artikel 3 bekräftigten die Regierungen der BRD und der DDR den Verzicht auf Herstellung und Besitz von und Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen und erklärten, dass auch das vereinigte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten werde. Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und die USA erklärten im Artikel 7 die Beendigung ihrer »Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes«, mit der Folge: »Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.«
Damit waren die deutschen Angelegenheiten, wie sie Teil des Kalten Krieges und der internationalen Auseinandersetzungen seit 1945 waren, in der Sache abschließend geregelt. Artikel 2 weist darüber hinaus: »Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.« Beide »erklären, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.«
Deshalb wurden Militäreinsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Gebietes zunächst als rechtlich unzulässig angesehen. Deutschland beteiligte sich nicht am Irak-Krieg 1990/91 (und zahlte 16,9 Milliarden Mark der Kriegskosten). Mit einem Urteil von 1994 zur Nato hat das Bundesverfassungsgericht diese allerdings zu einem »Bündnis kollektiver Sicherheit« umdefiniert. Damit wurde das Gebot des Grundgesetzes, einen Streitkräfteeinsatz nur zur Territorialverteidigung (Art. 87a Grundgesetz) zuzulassen, umgangen: Da die Bundesrepublik sich »zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen« kann (Art. 24 Grundgesetz), wurden Bundeswehreinsätze ohne Grundgesetzänderung genehmigt. Deutschland beteiligte sich jahrelang am Afghanistan-Krieg. Heute stehen deutsche Truppen am Hindukusch und in Mali, versehen Aufgaben einer »Schutztruppe« in Südosteuropa und deutsche Kriegsschiffe sind auf den Weltmeeren unterwegs. Die kürzliche Debatte um »nukleare Teilhabe« im Rahmen der Nato hat erneut zu der Frage geführt, ob diese mit dem Atomwaffensperrvertrag vereinbar ist. Dem Grunde nach widerspricht sie auch dem Zwei-plus-vier-Vertrag.
Deutschland ist wieder Zentralmacht Europas, dominiert die EU und wurde zu einer geoökonomischen Macht mit globalen Interessen. In der Mitte Europas erstand das vereinigte Deutschland neu, als habe es den Kalten Krieg gewonnen. Die deutsche Außenpolitik wurde schrittweise verselbstständigt. Grundsatz bundesdeutscher Außenpolitik - bereits der westdeutschen vor 1989 - war es, Alleingänge zu vermeiden und stets im Bündnis bzw. im Rahmen internationaler Organisationen zu handeln, sei es die Europäische Union, die Nato oder auch die UN. Kam es zu einer Differenz in der Positionierung der USA oder Frankreichs, entschied sich die bundesdeutsche Außenpolitik dann für eine der beiden Positionen. So verweigerte die Schröder-Regierung 2003 die Teilnahme Deutschlands am Irakkrieg der USA, sah sich dabei aber in demonstrativer Übereinstimmung mit Frankreich. Die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zur Resolution 1973 (17. März 2011), die den Weg zum Krieg westlicher Länder in Libyen öffnete, war der erste Fall, dass Deutschland nicht mit den USA, Frankreich und Großbritannien, wohl aber mit China, Russland, Indien und Brasilien stimmte - den aufstrebenden Mächten des 21. Jahrhunderts. Es war das Signal, dass deutsche Interessenwahrnehmung in der internationalen Politik keine abgeleitete Funktion von »Bündnisverpflichtungen« mehr ist.
Die Annahme aus der Zeit der deutschen Vereinigung, ein »europäisches Deutschland« zu schaffen, um ein »deutsches Europa« zu verhindern, blieb Illusion. Wir haben es mit einem »europäischen Deutschland« in einem »deutschen Europa« zu tun. Die »Westbindung«, die erst die BRD, dann das vereinte Deutschland in die globale, von den USA dominierte Weltordnung einbinden sollte, hat eine neue deutsche Hegemonie nicht verhindert, sondern deren politische, organisatorische und kulturelle Formen gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert.
Das Thema deutsche Hegemonie schien mit dem 8. Mai 1945 erledigt. Jetzt ist es wieder da. Teile des konservativen deutschen Bürgertums begannen seit der Finanzkrise 2008, Deutschlands neue Großmachtrolle zu diskutieren. Tenor war, Deutschland sei nun »Hegemon wider Willen«. Die deutsche Hegemonie beruht auf einer gesunkenen Bedeutung des Militärischen, sie ist politisch und beruht auf der wirtschaftlichen Macht. Das hat die deutsche Politik im Falle der griechischen Schulden allen vor Augen geführt. Dagegen gelang es nicht, den deutschen Alleingang in der Flüchtlingsfrage 2015, der weder den geltenden EU-Verträgen noch den Verabredungen im Europäischen Rat entsprach, europapolitisch umzusetzen.
Die deutsche Verteidigungsministerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, erklärte am 7. November 2019, die großen Gefahren unserer Zeit seien Russland, der Terrorismus und »der machtpolitische Aufstieg Chinas, der mit einem Herrschaftsanspruch einhergeht«. Auch die »Londoner Erklärung« des Nato-Gipfels vom 3. und 4. Dezember 2019 deklarierte Russland zur »Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit«. Dem Land wurde die Verantwortung für die Beendigung des Vertrages über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen zugewiesen, obwohl es die USA waren, die den Vertrag aufkündigten. China wurde ebenfalls wieder als »Herausforderung« ausgemacht.
»Friktion« hatte Carl von Clausewitz genannt, was »den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet«. Das Friktionsproblem erscheint auch in der Politik. Für die derzeitige deutsche Außenpolitik heißt dies: Eine weitere absichtsvolle Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen bräuchte eine engere Zusammenarbeit mit den USA. Ein Ausbalancieren der unter Trump verschlechterten Beziehungen zu den USA bräuchte gute Beziehungen zu Russland. Eine deutsche »Wertepolitik«, etwa zum Sturz Assads in Syrien, bräuchte gute Beziehungen zu den USA und zu Russland. Beiden selbstbewusster gegenüberzutreten, hätte eine stärkere EU zur Voraussetzung. Die ist nach Flüchtlingskrise, Kontroversen mit Ungarn und Polen sowie den Südländern nicht zu sehen. Der Brexit verstärkt die EU-Probleme. Im Handelskrieg zwischen den USA und China können Deutschland und die EU nicht neutral bleiben. Im Sinne des freien Welthandels sitzt Deutschland mit China in einem Boot, will sich mit ihm aus ideologischen Gründen jedoch nicht gemein machen - wegen der »westlichen Werte« und weil die (west-)deutsche politische Klasse jahrzehntelang auf die USA fixiert war.
Deutschland hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne. Bundeskanzlerin Merkel hatte schon vor dem EU-Gipfel (17.-21. Juli 2020) Eurobonds nicht mehr abgelehnt und zusammen mit dem französischen Präsidenten Macron den Vorschlag eines 750-Milliarden-Euro-Topfes gemacht. Hier sollten für Hilfen 500 Milliarden Euro zur Verfügung stehen und für Kredite 250 Milliarden - am Ende waren es 390 zu 360 Milliarden Euro.
Hat Merkel wirklich altruistisch gehandelt? Tatsächlich reproduzieren sich mit der Coronakrise die Ungleichgewichte innerhalb der EU. Deutschland bleibt wirtschaftliches Kraftzentrum, der deutsche Außenhandelsumsatz erreichte 2019 ein Volumen von 2,4 Billionen Euro, der Exportüberschuss 223,6 Milliarden Euro; 65,3 Prozent der deutschen Exportüberschüsse kamen aus der EU, 37 Prozent aus der Eurozone. Ein gewachsener Teil des deutschen Außenhandelsüberschusses resultiert aus dem Austausch mit der weiten Welt. Wichtigster Außenhandelspartner war 2019 erneut die Volksrepublik China; die meisten deutschen Exporte gingen in die USA. Deutschlands Position als geoökonomische Macht mit globalen Interessen ist von einem weiteren Einbruch der US-Ökonomie im Gefolge der Corona-Pandemie sowie einer Zuspitzung der handelspolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China in höchstem Maße betroffen.
So dient das 750-Milliarden-Euro-Programm auch dazu, die EU parallel zu China und schneller als die USA aus den Untiefen der Coronakrise herauszuholen sowie die anderen EU-Länder gegenüber Deutschland solvent zu halten. Die EU ist das unverzichtbare Hinterland der deutschen Position in der Welt. Zugleich erschwert die gemeinsame Kreditaufnahme weitere »Exits« aus der EU, sei es den Frankreichs oder auch den Italiens.
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