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»Zugucken, wie die Stadt kaputt geht«
Wo ist »Heeme«, Osten? In Leipzig beginnt das Dokfilmfestival. Es läuft auch »Grenzland« von Andreas Voigt
Im Jahr 1991 arbeitet Carla noch im Chemiefaserwerk Guben. Auf die Frage, was sie da mache, sagt sie nur: »Abfall«. Carla, mittellange Haare, blaue Schürze über rosafarbenem Pullover, sitzt an einem Tisch. »Ich werde von mir aus nicht kündigen. Und solange, wie ich die Kündigung nicht kriege vom Chef, bleibe ich hier«, sagt sie mit ernster Miene. Und wenn doch? »Dann sind wir erstmal arbeitslos. In Guben ist hier keine Zukunft erstmal.«
Schnitt, irgendwo in Westdeutschland: Carla wischt mit einem Lappen über einen Spielautomaten. Sie trägt eine dunkle Weste und mittlerweile auch eine Brille. »Na, Micha, hast du kein Glück?«, fragt sie, ohne Micha dabei anzuschauen. Anschließend sitzt sie am Tresen, dahinter ihre Kollegin. Beide rauchen. »Ruh dich aus, du hast nachher noch zu tun«, sagt die Kollegin zu Carla. Alles ist anders geworden: der Arbeitsplatz, die Kollegen, das Umfeld. Nur Carlas ernste Miene ist noch da.
Diese beiden Szenen sind in »Grenzland« zu sehen, der am Donnerstag auf dem Dokumentarfilmfestival Leipzig Premiere hat. Regisseur Andreas Voigt erzählt darin Geschichten von Menschen entlang der Oder, aus dem Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen. Voigt dockt damit an seinen Film »Grenzland - eine Reise« aus dem Jahr 1992 an, die erste Szene mit Carla im Chemiefaserwerk ist diesem ersten Film entnommen. »Grenzland« ist Teil einer Reihe von Filmen, die beim diesjährigen DOK Leipzig, dem Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, unter dem Stichwort »Heeme« (= zu Hause) gezeigt werden und ostdeutsche Geschichte und Gegenwart thematisieren. Zu Hause ist dieses Jahr wörtlich zu nehmen. Denn wegen der Pandemie sind viele Filme online zu sehen, aber auch als Publikumsveranstaltungen.
Was bei »Grenzland« auffällt: Alle Protagonisten berichten von Umbrüchen. Salman, der aus Syrien nach Deutschland floh, arbeitet in einer Autowerkstatt und fühlt sich auf dem polnischen Markt ganz wie zu Hause: »Bei uns sieht der genauso aus.« Oder die Musikerin Eleni, deren Großeltern väterlicherseits aus Griechenland stammen und während des Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 nach Polen flohen: »Wenn man mich fragt, wo ich herkomme, sage ich immer: Papa Grieche, Mama Polin.«
Oder eben Carla, die nach der Wende in den Westen ging, weil sie arbeitslos geworden war. Das Chemiefaserwerk, zu DDR-Zeiten noch größter Arbeitgeber im Kreis Guben mit etwa 8000 Beschäftigten, wurde nach der Wende in mehrere Teilbetriebe aufgeteilt und von der Treuhand verwaltet - mit schwerwiegenden sozialen Folgen für die Region. Rückblickend sagt Carla: »Der Zusammenhalt ist schlechter geworden. Die machen alle ihre Türen zu, machen ihren Kram. Das war in der DDR besser. Da war ein bisschen mehr Gemeinschaft.« Was ihr wichtig ist? »Dass ich gut leben kann, dass ich mir keine Sorgen machen muss, was morgen ist.«
Das sehen Salman und seine migrantischen Kumpel, die gerade Salmans neu erworbenes Haus renovieren, natürlich ein bisschen anders. »Freiheit« sei das Wichtigste, sagt einer. Ein anderer konkretisiert: »Man kann ruhiger leben in Deutschland. Es ist egal, was du glaubst, was du liebst. Bei uns in der Heimat ist das nicht möglich. Du kannst nicht einfach sagen, du bist kein Muslim.«
Was Carla und Salman verbindet: die Oder. Sie durchfließt Carlas alte Heimat und Salmans neue. Sie ist eine Heimat, die schon immer im Wandel war - bedingt durch den Verlauf der Geschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Westverschiebung Polens wurden viele Deutsche aus der Region vertrieben, die Dörfer standen leer. Andere Polen aus den Ostgebieten wurden an die Westgrenze zwangsumgesiedelt. Und nach der Wende, im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs, zogen viele Menschen von der Oder nach Westdeutschland.
Für Andreas Voigt, der seine Protagonisten immer wieder auf das Thema Heimat anspricht, ist diese Region besonders spannend. »Für die allermeisten Menschen ist Heimatgefühl sehr wichtig«, sagt der Regisseur im Gespräch mit »nd« und beruft sich auf den pommerschen Schriftsteller Uwe Johnson, für den Heimat kein politisches System gewesen sei, sondern eine Landschaft, eine Sprache, die man spricht, und Freunde, die man hat. Das, so Voigt, sei eine »schöne Beschreibung«.
Schon in seinen früheren Werken, etwa seiner bekannten Leipzig-Reihe (1987 - 2015), einer sehr empfehlenswerten Langzeit-Beobachtung, zeigt Voigt seine Protagonisten als nahbare Menschen und gibt ihnen viel Raum, um über das eigene Leben und dessen Umbrüche zu sprechen.
Voigts Filmporträt über die Grenzregion Oder ist bewegend, an mancher Stelle sogar bedrückend. Eine Szene aus Hoyerswerda: Zwei ältere Herren sitzen auf einer Bank. Sagen nichts, schauen nur. Vor ihnen der Abrissbagger, der einen Plattenbau zerlegt. Wie sie den Abriss der eigenen Stadt finden, fragt Voigt die beiden Männer. »Traurig, oder?«, sagt der eine. Von einst über 70 000 Einwohnern seien nur noch 30 000 übrig. Dann beginnt er, über sein Leben zu reden: »Ich bin gelernter Werkzeugmacher, aber das wird ja heutzutage nicht mehr anerkannt. Ich dümple nur so vor mich hin. Früh aufstehen, frühstücken, Katze füttern, Blumen gießen. Und zugucken, wie die Stadt kaputtgeht.«
Ähnlich bewegt berichtet Voigt, der einst in Kraków Physik studierte, über seine Begegnungen und Erfahrungen beiderseits der Oder, die ihn »zutiefst geprägt« haben. Im Vergleich zu seinen ersten Dreharbeiten Anfang der 90er-Jahre findet er aber, dass sich die Region zum Guten verändert habe. »Unmittelbar nach dem Fall der Mauer war das eine wahnsinnig trostlose Region, eine Art Nachkriegssituation. Es war spannend, noch einmal dorthin zu gehen: Dieses Graue, Triste, was es damals gab, ist verschwunden. Da ist etwas Ansehbares entstanden.«
DOK Leipzig bis 1.11.. »Grenzland« hat dort am 29.10. Weltpremiere, um 20:30 Uhr im CineStar 2. Läuft auch am 30.10 um 20 Uhr im Hauptbahnhof Osthalle (Eintritt frei) und am 31. 10. um 17.15 Uhr in der Schauburg. Online verfügbar vom 30.10. bis 13.11.
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