Die Häuser denen, die sie brauchen

Obdachlose Menschen besetzen das »Papageienhaus« in Berlin-Mitte.

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 5 Min.

»Wir haben heute diese Wohnungen besetzt, weil sie seit Ewigkeiten leer stehen.« Die Stimme des Aktivisten schallt am Donnerstag über Megafon aus dem zweiten Stock der Hausnummer 46 in die Habersaathstraße, direkt gegenüber vom Gebäudekomplex des Bundesnachrichtendienstes. Vor dem Haus stehen Einsatzfahrzeuge der Polizei, Dutzende Interessierte und Unterstützer*innen der Besetzung haben sich ebenfalls dort versammelt. Einer von ihnen ist Thomas Hahn. »Es kann nicht sein, dass im Zentrum der Stadt so viel leer steht« sagt er zu »nd«. Er selbst lebe seit nunmehr zweieinhalb Jahren auf der Straße und würde hier sofort einziehen. »Das wäre für das Jobcenter auch günstiger, als die Kosten für Wohnheimplätze zu bezahlen«, so Hahn weiter.

Der fünfstöckige Block in der Habersaathstraße 40-48 wurde 1984 für Beschäftigte der Charité errichtet. Wegen seiner bunt gekachelten Fassade erhielt er den Beinamen »Papageienhaus«. Davon zeugt heute nichts mehr, lediglich die Transparente, die die Aktivist*innen aus den Fenstern der besetzen Wohnungen gehängt haben, bringen ein wenig Abwechslung in den grauen Einheitsputz der Außenwand. »Ich bin hier weil ... ich zur Ruhe kommen möchte«, steht auf einem der Banner, »… ich Nachbar*innen haben möchte«, »… stay at home draußen nicht geht« und »… ich nachts keine Angst haben möchte«, auf anderen.

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»Die Wohnung, in der ich gerade bin, ist bezugsfertig. Selbst einen Herd gibt es hier«, sagt ein Aktivist, der sich Löffel nennt, zu »nd«. Das sei verschenkter Wohnraum. Auch für den Rest des Hauses gebe es Ideen. »Wir wollen hier neben der Bereitstellung von selbstverwaltetem Wohnraum für Obdachlose und andere sozial Schwache auch ein kreatives soziales Zentrum einrichten. Zum Beispiel mit eigener Kleiderwerkstatt«, sagt der Besetzer, der nach eigenen Angaben bereits seit vier Monaten ohne Obdach ist.

Das Gebäude ist seit Jahren ein Politikum, steht es doch als Überbleibsel bezahlbaren Wohnraumes in einer der teuersten Gegenden der Hauptstadt exemplarisch für Fehlentscheidungen des Senats sowie den Konflikt zwischen Mieter*innen und den Verwertungsinteressen der Immobilienbranche. Ursprünglich in städtischer Hand, wurde die Immobilie 2006 vom damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) für zwei Millionen Euro an private Investoren verkauft. Infolgedessen kam es zu umfassenden energetischen Sanierungen, die das Ende der bunten Fassade besiegelten. Erste Mieter*innen verließen ihre Wohnungen, die teilweise teuren Hotelwohnungen wichen.

Im September 2017 wurde das Gebäude an Arcadia Estates weiterverkauft, für 
20 Millionen Euro, wie es heißt. Der neue Investor plante anfänglich, im Gebäude Modernisierungen durchzuführen. Mit der Begründung, dass dies nicht rentabel sei, entschied er sich allerdings um. 2018 beantragte der Geschäftsführer Andreas Pichotta zunächst eine Baugenehmigung für Luxuswohnungen samt Tiefgarage, anschließend die Erlaubnis zum Abriss des Plattenbaus. Allen verbliebenen Mieter*innen wurde gekündigt, die renitenten Mietparteien, von denen sich einige in der Interessengemeinschaft Habersaathstraße gegen die Verdrängung organisiert hatten, sollten mit Abfindungen zum Auszug bewegt werden. Auf dem Blog der Initiative finden sich Einträge über Schikane und Einschüchterungsversuche. Am 21. September 2018 wurde zudem das Auto von deren Sprecher Theo Diekmann von Unbekannten in Brand gesetzt. Aktuell sind von den 106 Wohnungen im Gebäude nur noch etwa ein Dutzend bewohnt, der Rest steht leer.

Das Bezirksamt Mitte verwehrte Pichotta die Abrissgenehmigung noch 2018. Laut dem verschärften Berliner Zweckentfremdungsverbotsgesetz muss bei Abriss »angemessener« Ersatzwohnraum mit einer Mietobergrenze von 7,92 Euro pro Quadratmeter nettokalt geschaffen werden, wurde argumentiert. Diese Obergrenze ist allerdings umstritten und wurde in einem Fall bereits vom Verwaltungsgericht gekippt. Gegen die Abrissversagung legte der Eigentümer Widerspruch ein, in dieser Sache hat das Verwaltungsgericht bisher noch keine Entscheidung gefällt.

Mittlerweile strebt der Bezirk eine Rekommunalisierung des Gebäudes an. Auf einer Sitzung im Juni dieses Jahres solidarisierte sich die Bezirksverordnetenversammlung von Mitte mit der Interessengemeinschaft und forderte die »schnellstmögliche Beendigung des dortigen Wohnungsleerstandes« sowie eine Vermietung der Wohnungen.

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Auch die Besetzer*innen wollen ein schnelles Ende des Leerstandes. Doch statt eines kostspieligen Rückkaufs fordern sie die Beschlagnahmung der Immobilie durch den Bezirk. »Während mit Leerstand spekuliert wird, müssen schätzungsweise 10 000 Menschen in Berlin auf der Straße leben. Dies ist ein nicht hinnehmbarer Zustand«, kritisiert Valentina Hauser von der Gruppe »Leerstand Hab-ich Saath«. Das Bündnis fordert Innensenator Andreas Geisel (SPD) auf, von der Berliner Linie abzurücken. Diese sieht die Räumung von Besetzungen binnen 24 Stunden vor. »Wenn Innensenator Geisel obdachlose Menschen, die dringend ein Zuhause brauchen, aus der Habersaathstraße räumen lässt, zeigt Rot-Rot-Grün einmal mehr, wie sie vor dem Immobilienkapital kuscht«, so Valentina Hauser. Wenn Zuhause bleiben das Gebot der Stunde sei, dann müsse das Menschenrecht auf Wohnen für alle Menschen in der Stadt gelten.

Auf der Straße ist mittlerweile eine Kundgebung angemeldet, rund 200 Menschen haben sich laut »Leerstand Hab-ich Saath« eingefunden. Vor dem Eingang des Hauses werden Einwegmasken ausgegeben, mehrere Musiker*innen spielen mit Geige und Akkordeon auf. Auf Twitter verkündete Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne), dass der Bezirk die Beschlagnahmung prüfe, da man die Wohnungen für Personen brauche, die ohne Wohnraum ihre Quarantäneverpflichtung nicht erfüllen könnten.

Am Abend begann die Polizei trotzdem mit der Räumung des Hauses. Polizeipräsidentin Barbara Slowik sei das Räumungsersuchen des Eigentümers offenbar wichtiger als die Prüfung auf Beschlagnahmung des Hauses durch den Bezirk, kritisieren die Besetzer*innen. Die Obdachlosen stehen wenige Tage vor dem Quasi-Lockdown am Montag wieder auf der Straße.

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