Washington sieht alt aus

Die Krise der USA hat viele Facetten - eine erinnert an die späte Sowjetunion

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Der politische Todeskampf der Sowjetunion äußerte sich in den 1980er Jahren auch darin, dass mehrere Führer der Kommunistischen Partei in kurzer Zeit, ja, regelrecht wegstarben. Auf Breschnew folgte 1982 Andropow. Nach nur 15 Monaten gestorben, löste ihn Tschernenko ab. Schon bei Antritt in schwacher Verfassung, starb er 13 Monaten später. Erst mit Michail Gorbatschow kam 1985 ein Mann an die Spitze, der eine Generation jünger war und vor allem anfangs Vitalität ausstrahlte.

Ohne beide Länder gleichzusetzen: Auch die USA sind in der Krise. Zu ihr gehört der wenig beachtete Umstand, dass das politische Washington heute alt wie nie aussieht. Daran ändern auch die heutige Präsidentschafts- und Kongresswahl nichts, nicht einmal der Punkt, wer ins Weiße Haus kommt - beziehungsweise dort bleibt. James Hohmann von der »Washington Post«, der eine Art Hauptstadt-Blog schreibt, spricht mit Blick auf das handelnde Personal von »Amerikas Trend zur Gerontokratie«. Gerontokratie kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Altenherrschaft. Gemeint war damit die Leitung einer Gemeinschaft durch einen Kreis von Alten, deren Erfahrung der Allgemeinheit nutzen sollte. In politischen Zusammenhängen ist »Gerontokratie« entschieden weniger positiv besetzt. Sie legt Überalterung, Stagnation und Krise nahe.

Max und Moritz - der linke Podcast zum US-Wahlkampf

Jede Woche analysieren Max Böhnel und Moritz Wichmann im Gespräch mit Oliver Kern den US-Wahlkampf. Am 2. November um 18 Uhr schauen "Max und Moritz" in einem Live-Podcast auf die letzten Umfragen und erläutern aus der linken Perspektive, worauf man in der Wahlnacht und in den Tagen danach achten sollte.

Betrachten wir die Spitze der Washingtoner Akteure: Sollte Herausforderer Joe Biden von den Demokraten heute gewinnen, wäre er bei Amtsantritt am 20. Januar mit 78 Jahren ältester je gewählter US-Präsident. Er hätte dann auch Donald Trumps Rekord übertroffen, der im Januar 2017 seinerseits mit 70 ältester Präsident bei Dienstbeginn gewesen war. Auch Trumps Wiederwahl würde den Überalterungstrend bestätigen. Bei seiner zweiten Amtseinführung ginge er auf die 75 zu. Der politisch interessanteste Vorwahlkonkurrent Joe Bidens bei den Demokraten, Bernie Sanders, passt gleichfalls in dieses Bild. Er ist seit September schon 79. Der Senator aus Vermont, der sich als demokratischer Sozialist bezeichnet, hatte mitten im strapaziösen Wahlkampf einen Herzinfarkt weggesteckt, dann jedoch den innerparteilichen Wettbewerb gegen Biden verloren. Was nicht heißt, dass wir ihn für den Fall eines Biden-Siegs nicht womöglich in dessen Kabinett wiedersehen. Die Beiden verstehen und schätzen sich seit Jahrzehnten, trotz politischer Differenzen.

US-Wahlumfragen zeigen bisher relativ stabilen Vorsprung für Joe Biden

Gleiche Tendenzen wie auf der exekutiven sind in Washington auf der gesetzgeberischen Ebene zu beobachten. Nancy Pelosi, Mehrheitsführerin der Demokraten im Abgeordnetenhaus und nach Vizepräsident Pence die Nummer zwei in der von der Verfassung geregelten Rangfolge, sollte Trump etwas zustoßen, ist mit 80 die älteste Chefin aller Zeiten in der ersten Kammer des Kongresses. Sie übertrifft den bisherigen Altersrekord eines Speaker im Abgeordnetenhaus - Sam Rayburn war 79, als er 1961 im Amt starb. Pelosis Stellvertreter Steny Hoyer und Jim Clyburn wiederum sind 81 bzw. 80, womit das gesamte aktuelle Führungstrio der Demokraten im Repräsentantenhaus aus »Octogenarians« besteht.

Bei den Republikanern sieht es kaum jünger aus. In der zweiten Kongresskammer ist Mitch McConnell, Mehrheitsführer im Senat, mit 78 gleichfalls ältester Senator, der je diese Funktion ausübte. Der Mann aus Kentucky kandidiert am heutigen Dienstag für weitere sechs Jahre, nicht bloß für den eigenen Senatssitz, sondern auch wieder für den Chefposten bei den Republikanern. Sein Parteifreund Chuck Grassley ist als Präsident pro tempore des Senats sogar 87. Der amtierende Präsident der Kammer folgt gemäß Verfassung unmittelbar auf den Sprecher des Abgeordnetenhauses, derzeit Nancy Pelosi. Als dienstältester Senator der größten Fraktion ist der Präsident pro tempore das zweithöchste Senatsmitglied. Vor ihm rangiert nur der Vizepräsident der USA, der ex officio dem Senat vorsitzt. Zusammengenommen beträgt das Alter von US-Präsident, Führerin des Abgeordnetenhauses und Mehrheitsführer des Senats, den drei einflussreichsten Wahlfunktionen der Regierung, somit 232 Jahre - nur ein Jahr jünger als die US-Verfassung, die 1787 verabschiedet wurde.

Republikaner müssen viel "verteidigen": Sechs Staaten sind besonders umkämpft bei den US-Senatswahlen 2020 - hier versuchen die Demokraten eine Mehrheit im US-Senat zu erringen

Gemeinhin sagt man, Gerontokratie herrscht, wenn eine Regierung von Leuten geführt wird, die beträchtlich älter sind als der Rest der erwachsenen Bevölkerung. Das trifft in den USA zu und ist so manchem Amerikaner Anlass zur Sorge. Umso mehr, als zugleich die durchschnittliche Lebenserwartung der US-Bürger seit einigen Jahren erstmals sinkt - ebenfalls ein Krisenzeichen. Das alles trug im Sommer mit dazu bei, dass Joe Bidens Entscheidung für seinen Vizepräsidentschaftskandidaten aufmerksamst verfolgt wurde. Bei einem Oldie, der im Erfolgsfall als ältester US-Präsident beginnen würde, kommen Alter und Fitness seines potenziellen Nachfolgers besonderes Gewicht zu. Sein Entscheid für die kalifornische Senatorin Kamala Harris wurde aus mehreren Gründen begrüßt, nicht zuletzt aber ihres Alters wegen: Gerade 56 geworden, ist sie verglichen mit vielen in Amerikas Führungsriege von geradezu atemberaubender Jugend.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!