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Die Nerven liegen blank
Nach vier Jahren Trump und mitten in einer Pandemie befürchten viele Amerikaner Gewalt nach der Wahl
Inmitten aller Szenarien, die durchgespielt werden, ist der erwünschenswerteste Ausgang leider auch der unwahrscheinlichste: massive Stimmabgaben und ein Riesenvorsprung für Joe Biden noch in der Wahlnacht, das Eingeständnis der Niederlage von Trump, Glückwünsche für den Sieger, Dankesworte an seine Anhänger und ein Aufruf zur Einheit der Nation. Stattdessen liegen die Nerven blank.
Denn Joe Biden hat zwar einen US-weiten Vorsprung von etwa 7,5 Prozent vor Trump. Aber in den Wechselwählerstaaten, die aufgrund des Mehrheitswahlrechts das Zünglein an der Waage ausmachen, ist der Vorsprung nicht mehr so satt. Dort liegt Biden zwar ebenfalls vorne, aber nur leicht und für Trump in Reichweite. Zur großen Verunsicherung und zur Verängstigung von Millionen von Amerikanern trägt Trumps oft wiederholte Ankündigung bei, den Wahlausgang nur anzuerkennen, wenn er vorne liegt, und eine Stimmenmehrzahl für Biden als »Wahlbetrug« zu betrachten. Gegen eine Addierung von Briefwahlstimmen, die in einigen Bundesstaaten erst nach dem Wahltag ausgezählt werden, will Trump angeblich gerichtlich vorgehen. Dabei ist die Wahl erst abgeschlossen, wenn alle Stimmen ausgezählt sind - ein völlig normales Prozedere.
Jede Woche analysieren Max Böhnel und Moritz Wichmann im Gespräch mit Oliver Kern den US-Wahlkampf. Am 2. November um 18 Uhr schauen "Max und Moritz" in einem Live-Podcast auf die letzten Umfragen und erläutern aus der linken Perspektive, worauf man in der Wahlnacht und in den Tagen danach achten sollte.
Schließlich geht die Furcht vor Gewalt am Wahltag und danach um. Eingeflößt wurde sie den Amerikanern durch Trump; drei Viertel befürchten, dass sie real wird. Ende September hatte es der Präsident abgelehnt, eine friedliche Machtübergabe im Fall seiner Wahlniederlage zuzusagen. Auf eine entsprechende Journalistenfrage hatte er im Weißen Haus geantwortet: »Nun, wir werden sehen, was passiert.« Ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der USA.
Das rhetorische Mittel, das Trump dabei nicht zum ersten Mal angewendet hatte, heißt auf Amerikanisch »dog-whistle« (Hundepfeife). Ähnlich einer Hundepfeife, deren Töne nur für Hunde hörbar sind, sind Trumps Aussagen oft codiert. So sät er immer wieder Zweifel an bürgerlich-demokratischen Gepflogenheiten - mit dem Ziel, einerseits bei Gegnern Verwirrung auszulösen, und andererseits seine Anhänger bei der Stange zu halten. In der ersten TV-Debatte mit Joe Biden antwortete er beispielsweise auf die Frage, ob er sich von Rechtsextremen wie etwa der notorischen Schlägertruppe »Proud Boys« distanzieren würde, den Blick in die Kameras gerichtet: »Stand back and stand by!« (zurückhalten und bereithalten).
Die jüngste »dog-whistle« ließ Trump ertönen, als ein Video aus Texas millionenfach die Runde machte: Ein mit Trump-Fahnen ausgestatteter Fahrzeugkonvoi verfolgt einen Wahlkampfbus mit der Aufschrift »Biden/Harris« und zwingt ihn auf einer Autobahn zur Verlangsamung der Fahrt. Ein Trump-Truck rammt dabei ein Begleitfahrzeug der Demokraten. Der augenzwinkernde Kommentar des US-Präsidenten dazu lautete: »I love Texas«. Es handle sich um »Patrioten«.
Dass die Trump-Anhänger die »dog-whistle« genau verstehen und ihre Zurückhaltung aufgeben, wurde auch tags darauf an mehreren Orten deutlich. Im von Demokraten beherrschten Bundesstaat New Jersey wie auch eine halbe Stunde nördlich von New York City blockierten Trump-Fahrzeugkonvois Autobahnen. In anderen Bundesstaaten beschränkten sich Anhänger des Präsidenten auf Pöbeleien.
Die Behörden befürchten, dass es sich dabei erst um den Beginn von Drohungen und Gewalt handelt. Laut einem Investigativbericht der »New York Times«, die sich auf namentlich nicht benannte Quellen aus Geheimdiensten und FBI berief, halten die Behörden »alles außer einer geregelten Wahl für möglich«. Für wahrscheinlich gilt ein Zwischenfall kleineren oder größeren Ausmaßes am Dienstagmorgen bei der Eröffnung eines Wahllokals in einem Ostküstenstaat. Innerhalb kürzester Zeit würde der Vorfall, so die Prognose, als Bild oder Video über soziale Medien multipliziert und mit Gerüchten angereichert. Mit Sicherheit würde es dann nicht lange dauern, bis sich Trump gegenüber seinen Millionen von Followern auf Twitter dazu äußert. Dass er das bis dahin entstandene Chaos dann rhetorisch einzudämmen versucht, gilt als ausgeschlossen.
Denn gerade, da Trump eine Stimmenniederlage befürchten muss, wird er als letztes Mittel auf noch mehr Chaos setzen. Ihren erschreckenden Bericht bebilderte die »New York Times« mit einer Dynamitstange, an der eine Lunte brennt. Eingewickelt ist der Explosionsstoff in die rot-weiß-blauen Nationalfarben mit der Aufschrift »Vote«.
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