Der Mut der Verfolgten
Der Dichter Osip Mandelstam ist ein Mythos - die Geschichte seiner Verfolgung unter Stalin erzählt seine Frau Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen, jetzt in einer neuen deutschen Ausgabe
Ossip Mandelstam, der sowjetische Schriftsteller, der von Stalin 1938 in den Tod geschickt wurde, ist weltbekannt. Weniger bekannt ist, dass seine Frau Nadeschda Mandelstam sein Werk gerettet hat. Auch wenn ihre »Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe«, die sie 1970 zuerst im Ausland veröffentlichte, eine bestürzende Beschreibung des stalinistischen Terrors darstellen, die sich mit Alexander Solschenizyns Dokumentation »Archipel GULAG« oder Wassili Grossmans Roman »Leben und Schicksal« vergleichen lassen.
Nun endlich liegt vom ersten Teil dieser Erinnerungen eine deutsche Ausgabe vor, die ihrer exemplarischen Bedeutung gerecht wird, in einer glänzenden Übertragung der versierten Berliner Übersetzerin Ursula Keller. Ohne die früheren Kürzungen und Glättungen, dafür mit umfangreichen Anmerkungen zu Personen und Zeitbezügen versehen sowie mit einem Personenregister.
Die drei Bände, insgesamt nahezu 3000 Druckseiten lang, kamen 1970 nicht in Moskau, sondern in New York heraus und wurden rasch weltweit übersetzt. Auf Deutsch erschien der erste Band 1971 unter dem Titel »Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie«. Der zweite Band kam vier Jahre später als ein Panorama des gesellschaftlichen und literarischen Lebens von 1910 bis 1960 unter dem Titel »Generation ohne Tränen« heraus. Der dritte Band, ein Mix aus Erinnerungen, Briefen und diversen Texten, wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Einzig die darin erhaltenen Erinnerungen an die russische Dichterin und Schriftstellerin Anna Achmatowa wurden 2011 vom Fischer-Verlag veröffentlicht.
Nadeschda Mandelstams Erinnerungen sind nicht nur ein erschütterndes Dokument über den Kampf des Dichters Mandelstam mit der sowjetischen Zensur, sondern auch eine mit mutiger Offenheit erzählte Liebesgeschichte. Als 19-jährige Kunststudentin lernte sie den 28-jährigen Dichter Ossip Mandelstam am 1. Mai 1919 in einem Kiewer Künstlerlokal kennen. Beide waren an der modernen Kunst interessiert und setzten sich für die künstlerische Avantgarde ein.
Ossip hatte zuvor in Paris, Heidelberg und Petersburg studiert und 1912 gemeinsam mit Anna Achmatowa und dem Dichter Nikolai Gumiljow die literarische Bewegung des Akmeismus begründet, gegen die Mystik und für mehr Sachlichkeit, getrieben von der »Sehnsucht nach der Weltkultur«. Berühmt machten ihn die Gedichtbände »Der Stein« (1913), gleichsam ein Manifest des Akmeismus, und »Tristia« (1922) mit Gedichten für die Freiheit der Kunst. Auch die autobiografische Erzählung »Das Rauschen der Zeit« (1925), ein Rückblick auf die eigene Kindheit und Schulzeit im jüdischen Milieu, fand große Resonanz.
Seine spätere Ehefrau Nadeschda Chasina stammte aus dem assimilierten Kiewer Judentum; ihr Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Ärztin. Sie studierte Malerei, war Schülerin der bekannten Künstlerin Alexandra Exter, die sich mit den neuen Strömungen des Konstruktivismus und Suprematismus auseinandersetzte. Nadeschda und Ossip konnten erst 1922 heiraten, nach dem Ende des Bürgerkriegs, der die Liebenden anderthalb Jahre getrennt hatte. Sie zogen nach Moskau, wo sie im Haus des Schriftstellerverbands ein winziges Zimmer erhielten. Ossip wollte sich nicht den Forderungen der sowjetischen Kulturpolitik anpassen und hatte deshalb Schwierigkeiten, seine Gedichte zu veröffentlichen. Aus Trotz schrieb er fünf Jahre keine Gedichte mehr und wurde dadurch immer mehr isoliert. Nur wenige Freunde, darunter Anna Achmatowa und die Literaturwissenschaftler Viktor Schklowski und Emma Gerstein, hielten fest zu ihm.
Als er wieder dichtete, wurde es noch schwieriger. Vor allem sein »Epigramm gegen Stalin« vom November 1933, das den Diktator als »Verderber der Seelen und Bauernabschlächter« bezeichnete, machte ihn zu einer Persona non grata. Die unmittelbare Folge war 1934 die dreijährige Verbannung nach Tscherdyn im Ural und anschließend nach Woronesh. »Ausweisung und Verbannung waren in jener Zeit für uns alltäglich«, schreibt Nadeschda, die ihrem Mann folgte und sich bemühte, ihr Überleben zu sichern.
Nach dem Ende der Verbannung fand das Paar keine Bleibe mehr. Im Mai 1938 führten zwei Rotarmisten Ossip ab. Er wurde »wegen konterrevolutionärer Tätigkeit« zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nadeschda sah ihren Mann nie wieder. Er starb im Dezember in einem Lager bei Wladiwostok an Typhus und Unterernährung. Seine Frau erfuhr nie etwas über die Umstände seines Todes. »Nicht einmal sein Todesdatum ist bekannt. Und es steht nicht in meiner Macht, es zu ermitteln.« Mit diesen Worten enden ihre Erinnerungen.
Für Nadeschda begann 1938 ein zweites Leben. Vom NKWD per Haftbefehl gesucht, versteckte sie sich bei Bekannten an abgelegenen kleinen Orten, arbeitete in einer Textilfabrik, in der Landwirtschaft und als Englischdozentin. Mit ihrer engen Freundin Anna Achmatowa verbrachte sie die Kriegsjahre in Taschkent. Die nicht veröffentlichten Texte ihres Mannes lernte sie auswendig.
Auch nach Stalins Tod 1953 ist an Veröffentlichung nicht zu denken. Nadeschda beschließt, das Erbe ihres Mannes niemals dem sowjetischen Staat zu überlassen. Stattdessen lässt sie das Archiv des Dichters nach Paris schmuggeln und von dort in die USA bringen, wo es noch heute an der Princeton University verwahrt wird.
Ihre Erinnerungen sind eine schonungslose Abrechnung mit dem Stalin-Regime - und mit dessen Helfern und Helfershelfern in der »komplizenhaften Intelligenzija«, zu denen einige offizielle Vertreter des Schriftstellerverbandes zählen. Sie begann sie in der »Tauwetter-Periode« niederzuschreiben.
Mittlerweile ist Ossip Mandelstam ein Mythos, er gilt weit über Russland hinaus als ein Märtyrer der Poesie, der für seine Dichtung mit dem Leben bezahlte, schreibt der Schweizer Philologe Ralph Dutli in seiner Mandelstam-Biografie »Meine Zeit, mein Tier«. Mandelstams Frau Nadeschda habe bei der Erschaffung seines Heiligenscheins die Hauptrolle gespielt: »Sie überlebte wie durch ein Wunder die Stalin-Epoche (…) und enthüllte in ihren monumentalen Memoiren der staunenden Welt das Ausmaß von Mandelstams Isolierung und Verfolgung, aber auch seinen Mut und seine Zivilcourage in den finstersten Jahren des Stalin-Terrors.« Der Titel »Das Jahrhundert der Wölfe« bezieht sich auf Mandelstams Gedicht »Für den pochenden Mut einer künftigen Zeit« von 1931. In diesem verurteilt er das »Wolfshund-Jahrhundert« und betont stolz, er sei »nicht von wölfischem Blut«.
Nadeschda Mandelstam starb am 29. Dezember 1980 in Moskau im Alter von 81 Jahren, umschwärmt von jungen Dichtern wie Joseph Brodsky, die sich dem Erbe Mandelstams verpflichtet fühlten. 1987 kam es zur vollständigen Rehabilitierung ihres Mannes unter Gorbatschow.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. A. d. Russ. übersetzt, m. Anm. u. einem Nachwort versehen v. Ursula Keller. Die Andere Bibliothek,791 S., geb., 44 €.
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