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Die lange Nacht wird immer länger
Donald Trump will seine Wiederwahl von Richtern sichern lassen. Dabei werden noch Stimmen gezählt
Auf dem Bildschirm sind gut 50 meist junge Menschen in gelben Warnwesten zu sehen. Manche stecken Wahlzettel stapelweise in Zählmaschinen, holen sie Sekunden später wieder raus, legen sie in Pappkartons. Andere wiederum öffnen Tausende Briefumschläge, entfalten die Wahlzettel darin und verteilen sie auf gelbe Plastikkisten. Stundenlang kann man dem Treiben im Livestream des Philadelphia City Commissioners zusehen. Demokratie bei der Arbeit. Glaubt man aber Donald Trump, ist das alles Betrug. Auch am Tag nach der Präsidentschaftswahl in den USA stand nicht fest, wer sie gewonnen hatte. Zu knapp blieben die Abstände in mehreren Bundesstaaten, zu viele Stimmen noch ungezählt.
Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen erneut vor einer Zerreißprobe im Anschluss an eine Wahl. Erinnerungen ans Jahr 2000 werden wach, als der damalige Vizepräsident Al Gore knapp - und dank eines Urteils vom Obersten Gerichtshof - gegen den Republikaner George W. Bush verlor. Damals hatte Gore in der Wahlnacht im entscheidenden Bundesstaat Florida zunächst noch vorn gelegen. Später eintreffende Briefwahlstimmen sowie jenes Urteil, weitere Nachzählungen zu stoppen, machten Bush jedoch zum neuen Präsidenten.
Dieses Mal schaut das Land nicht nach Florida, sondern in fünf andere Staaten, an denen der Wahlausgang hängt - speziell nach Philadelphia ins große Wahlzentrum, das die Auszählungen bei Youtube live überträgt. Im Gegensatz zu Bush will sein aktueller Nachfolger Donald Trump nicht warten, bis alle Briefwahlstimmen gezählt wurden, denn er weiß, dass sie in großer Mehrheit an seinen demokratischen Herausforderer Joe Biden gehen werden, der zwar nicht die Wahlnacht seiner Träume erlebt hatte, aber doch noch auf einen knappen Sieg hoffen durfte. Anders als 2000 führte diesmal der Republikaner Trump am Wahlabend in Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, Georgia und North Carolina. Würde Trump jeweils seinen Vorsprung von teils mehreren hundertausend Stimmen halten, wäre er wiedergewählt. »Wir führen klar, aber sie versuchen, die Wahl zu stehlen. Das werden wir nicht zulassen. Stimmen dürfen nicht mehr gezählt werden, nachdem die Wahllokale geschlossen wurden«, twitterte Trump am Mittwoch eine knappe Stunde nach Mitternacht aus dem Weißen Haus.
Natürlich war diese Interpretation demokratischer Wahlen so weit ab von der Realität, dass Twitter einen Warnhinweis darüberlegen musste. Biden hingegen verlangte abzuwarten. »Wir wussten, dass es lange dauern würde«, sagte er vor Anhängern in seiner Heimat Delaware. »Weder ich noch Trump entscheiden, wer gewonnen hat. Das tut nur das amerikanische Volk.« Der einstige Vizepräsident von Barack Obama wusste, dass er Trump nur in zwei der offenen Staaten überholen musste, um Präsident zu werden. Und tatsächlich drehte er am Mittwochmorgen seine Rückstände in Wisconsin und Michigan in knappe Vorsprünge. Bleibt der in Wisconsin bei unter einem Prozentpunkt, kann Trump eine Nachzählung verlangen, selbst wenn dies nicht zu seinem Tweet passen würde.
Andererseits dürfte Joe Biden darauf bestehen, dass sein Kontrahent etwa in North Carolina noch nicht zum Sieger erklärt wird, obwohl hier die meisten Stimmen schon ausgezählt worden sind. Im Bundesstaat an der Ostküste dürfen Briefwahlzettel schließlich noch bis zum 12. November eintreffen und gezählt werden, solange ein Poststempel vom Wahltag drauf ist. Auch hier hofft der Herausforderer auf eine späte Aufholjagd.
Für eine tiefer gehende Analyse, warum die Wähler Trump doch besser aussehen ließen, als es viele Umfragen vorausgesehen hatten, ist es bei diesem ungewissen Ausgang wohl ebenso noch zu früh wie für ein generelles Verteufeln aller Demoskopen. Ein knapper Sieg Bidens galt schließlich stets als wahrscheinlicher als ein klarer, und noch war der enge Erfolg des Herausforderers zumindest am Mittwochmorgen ja noch möglich.
Vielleicht sogar auch noch am Donnerstag oder Freitag. In mehreren Staaten wie Nevada, Pennsylvania oder Arizona ließen die lokalen Wahlleiter zum Ärger Trumps verlauten, dass es noch Tage dauern könnte, bis sie Ergebnisse verkünden würden.
Trumps Berater dürften ihm schnell vorgerechnet haben, dass ihn Biden noch überholen kann, weshalb sich der Präsident um halb zwei Uhr nachts in einer Rede nicht nur zum Sieger erklärte. Er kündigte zudem an, weitere Auszählungen vom Obersten Gericht der USA stoppen zu lassen. Wahrscheinlich dachte er dabei an Bush und Gore vor 20 Jahren, doch damals waren zunächst alle Stimmen gezählt worden. Der Rechtsstreit, den die obersten Richter schließlich entschieden, war zudem zunächst vor anderen Gerichten in Florida ausgefochten worden. Bis der aktuelle Fall also bis nach Washington DC gelangt, wird es vermutlich Wochen dauern. Und bis dahin zählen die Menschen in den gelben Warnwesten fleißig weiter. Unter den neun Richtern am US Supreme Court sind sechs konservative, drei hat Trump selbst nominiert. Ob sie ihm helfen können, ist derzeit völlig ungewiss. Auf die Staatskrise will es Trump aber trotzdem ankommen lassen.
Noch nie hat ein Präsident der USA öffentlich den Stopp der ersten Auszählung verlangt. Noch nie hat er seinen Anhängern zuvor monatelang eingetrichtert, dieses urdemokratische Zählen sei betrügerisch. Doch noch nie hat es einen Präsidenten wie Trump gegeben. Es wird in den kommenden Tagen auf eine Menge Richter ankommen, ob sein Versuch, die Demokratie der USA auszuhebeln, Erfolg hat. Und auf die zählenden Wahlhelfer in den gelben Westen.
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