- Berlin
- Nach Räumung
Wohnungslose haben Leerstand satt
Nach der Räumung wird die Forderung nach der Beschlagnahme von leer stehenden Wohnungen in der Habersaathstraße in Mitte immer lauter
Donnerstagmittag vor dem Rathaus Tiergarten in Moabit: Rund 50 Obdachlose und Unterstützer*innen stehen und sitzen in der Herbstsonne. Eine Woche ist es her, dass sie in der Habersaathstraße in Mitte mehrere der 85 leer stehenden Wohnungen besetzt haben - in der Hoffnung, dort zumindest den Winter überstehen zu können. Doch daraus wurde nichts: Andreas Piechotta, Geschaftsführer der Arcadia Estates stellte Räumungsantrag, die Polizei räumte noch am Abend.
An sich keine Überraschung, doch die Besetzer*innen hatten auf Unterstützung durch den Senat gehofft. »Der Leerstand in der Habersaathstraße ist untragbar!«, twitterte Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) am selben Tag. Das Bezirksamt überprüfe die Beschlagnahme, »da wir Wohnraum für Personen brauchen«, die ohne Wohnraum ihre Quarantäneverpflichtung nicht erfüllen können.
Seitdem war vom Bezirksamt nichts mehr zu hören. Dementsprechend aufgebracht sind heute die Besetzer*innen und ihre Unterstützer*innen. Eine nach dem anderen ergreift das Mikrofon: »Ich find’s scheiße, dass Leute in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden sollen«, erklärt Ingo, der auf der Straße lebt, »für mich sind das Gefängnisse!« Er fordert nicht einfach nur ein Dach über dem Kopf, sondern eine würdige Unterbringung: »Wir wollen Gebäude für uns haben, wo wir eigenständig entscheiden können, was mit uns passiert und nicht andere.« Matze, der bei der Besetzung dabei war, beklagt die im Zuge der Räumung erfolgte Beschlagnahme ihrer wenigen Habseligkeiten. »Rückt bitte die Schlafsäcke wieder raus!«, schließt er.
Auch die Geflüchteten-Initiative Women in Exile ergreift das Wort. Sie kämpft für sicheren Wohnraum für geflüchtete Frauen. In den »Lagern« gebe es kein Privatleben, auch coronabedingtes Abstandhalten sei in Gemeinschaftsunterkünften unmöglich. Geflüchtete Frauen seien durch Rassismus und Diskriminierung zusätzlich gefährdet. Auch Luna war in der Habersaathstraße. »Menschen verstehen nicht, wie schwer das Leben auf der Straße ist«, beginnt sie. Dann fehlen ihr die Worte, sie wechselt in ihre Muttersprache Russisch und beginnt zu weinen.
Der Sprecher der wenigen verbliebenen Mieter*innen des Hauses, Daniel, kämpft schon seit 15 Jahren um den Erhalt des Wohnraums. Vor zwei Jahren wurde ihm das Auto angezündet, am helllichten Tag, genau gegenüber vom Bundesnachrichtendienst, versehen mit der Warnung: »Ausziehen oder brennen!« So erzählt er es. Die Ermittlungen seien nach vier Wochen eingestellt worden.
»Es könnte so leicht sein«, findet Valentina Hauser von der Initiative »Leerstand Hab-Ich-Saath«: »Wir wollen die Beschlagnahmung der Habersaathstraße.«
Die Polizei hat ein sehr genaues Auge auf die Einhaltung der Coronaregeln. Bevor das angekündigte Mittagessen beginnen kann, muss die Kundgebung einige Meter weiter nach hinten verlegt werden. Nicht wenige hier empfinden das als Schikane. Immer wieder fordern Redner*innen die Beschlagnahme leer stehender Wohnungen und die Anwendung des Polizeigesetzes ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) - eine Forderung, die man sonst eher selten hört. Das ASOG ermöglicht theoretisch, spekulativen Leerstand für die Unterbringung Obdachloser zu beschlagnahmen. Bisher wurde jedoch stets auf ausreichend verfügbare Plätze in Notunterkünften hingewiesen.
Die Pressestelle des Bezirksamts Mitte erteilt auf Anfrage dem Ruf nach Beschlagnahme eine Absage: Das Bezirksamt sei zuversichtlich, alle Betroffenen unterbringen zu können. »Unter diesen Voraussetzungen ist eine Beschlagnahme der Habersaathstraße 46 voraussichtlich nicht gegeben.« Bezirksbürgermeister von Dassel, vor dessen Rathaus die Kundgebung stattfindet, lässt sich nicht blicken. Gerüchten zufolge befindet er sich bereits im Urlaub. »Ich spreche mich dafür aus, dass, falls keine anderen Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose und Covid-19-Infizierte zur Verfügung stehen, leer stehende Wohnungen temporär beschlagnahmt werden«, erklärt die Stadträtin für Bürgerdienste, Ramona Reiser (Linke), in einer Stellungnahme vom Donnerstag.
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