»Einheit und Gleichheit haben noch nie so hohl geklungen«

Der Direktor des Tampadida-Instituts für Politikberatung Khin Zaw Win über die Parlamentswahlen in Myanmar an diesem Sonntag

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 8 Min.

Myanmar ist von der Corona-Pandemie hart getroffen. Wie ist die Lage im Land?

Die zweite Welle seit August hat sich vergleichsweise heftig entwickelt. Am schlimmsten ist die Lage in Yangon. Die Stadtviertel wurden abgeriegelt, aber eine totale Abriegelung der Stadt ist einfach nicht praktikabel. Das Gesundheitssystem steht nicht am Rande des Zusammenbruchs, aber es steht unter schwerem Druck. Viele Freiwillige haben sich gemeldet und viele Spender versorgen die Quarantänestationen weiterhin mit Lebensmitteln. Ein Geschäftsmann hat auf einem Fußballfeld eine neue Quarantänestation bauen lassen.

Khin Zaw Win
Ursprünglich Zahnarzt, arbeitete Dr. Khin Zaw Win für die Gesundheitsministerien in Myanmar und Malaysia sowie für Unicef in Yangon. 1994 wurde er von der Militärregierung verhaftet, weil er das Regime gewaltlos kritisiert hatte. Seit er 2005 zusammen mit mehr als 200 weiteren politischen Gefangenen in Myanmar aus der Haft entlassen wurde, engagiert er sich als Direktor der Denkfabrik Tampadipa Institute zu verschiedenen zivilgesellschaftlichen Themen. Für »nd« stellte Alexander Isele ihm Fragen, die Khin Zaw Win schriftlich beantwortete.

Was bedeutet das für die Wahlen an diesem Sonntag?

Die Pandemie schränkt den Wahlkampf für andere Parteien als die National League for Democracy (NLD) ein. Damit hat die regierende Partei viele Vorteile, sie wird die Wahlen nicht verschieben.

Als die NLD von Aung San Suu Kyi vor fünf Jahren die Wahlen gewann, sah es nach einem großen Schritt in Richtung Demokratie aus. Jetzt, fünf Jahre später, erhält Aung San Suu Kyi viel Kritik. Was ist geschehen?

Sie ist bankrott - an Ideen, Konzepten und politischen Projekten. Von ihr kann vor allem in Bezug auf Frieden und Föderalismus nichts erwartet werden.

Im Unionsstaat Rakhine, wo es viele Coronafälle gibt und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen und den Streitkräften, wurde die Abstimmung in einigen Wahlkreisen abgesagt. Ebenso in anderen Krisenregionen. Wie ist schätzen Sie das ein?

In drei von vier Wahlkreisen, die die NLD 2015 gewonnen hat, wurden die Wahlen nicht abgesagt, im Gegensatz zu sieben Wahlkreisen in Hochburgen der Arakan National Party (ANP), in denen überhaupt nicht gewählt werden wird. Die Amtszeit von 2015 bis 2020 hat gezeigt, dass nicht nur das Militär dem Föderalismus abgeneigt ist. Wir wissen, dass das Militär von Natur aus eine zentralisierte Institution ist, aber ist die Regierung der NLD anders? Die Schlagworte der Regierung von »ethnischer Einheit« und »Gleichheit« haben noch nie so hohl geklungen wie heute.

Es gibt viele Ungereimtheiten und Fragen bezüglich der Auswahl der Gebiete, in denen die Wahlen abgesagt wurden. Menschen, denen das Wahlrecht entzogen wurde, sind verständlicherweise verärgert. In einer anständigen Demokratie könnten Institutionen wie der Oberste Gerichtshof oder das Verfassungsgericht Rechtsmittel zur Verfügung stellen. Aber die Menschen in Myanmar lernen auf die harte Tour, dass die Demokratie keine unabhängigen Institutionen oder Gerechtigkeit gewährleistet.

Was ist Ihre Kritik an Aung San Suu Kyi und der NLD?
Die große Hoffnung auf die NLD und ihre Führerin Aung San Suu Kyi gipfelte in dem erdrutschartigen Sieg in den Wahlen von 2015. Traurigerweise ging es in den Jahren seither mit vielen Dingen, die unter dem Sammelbegriff »Demokratie« subsumiert werden, bergab – Dinge wie Pluralismus, Meinungsfreiheit, ethnische Gleichheit und Frieden. Die eiserne Ausrede, der demokratische Fortschritt werde durch die Präsenz des Militärs in der Politik aufgehalten, gilt nur bis zu einem gewissen Grad. Die Hauptverantwortung liegt bei der NLD und Aung San Suu Kyi.
Ich wusste schon lange über Aung San Suu Kyi Bescheid, aber was die Minderheiten über sie herausfanden, war ein böser Schock. Die parlamentarische Mehrheit schien die »echte« Aung San Suu Kyi – autokratisch und pluralismusverachtend – nur zu stärken. In der Hauptstadt Naypyidaw sind nur wenige Vertreter von Ethnien vor Ort, und alle vierzehn Chief Minister sind von der NLD. (Anm.d.Red.: Myanmar ist in 15 Verwaltungseinheiten aufgeteilt, sieben Regionen, wo Bama die Mehrheit stellen, sieben ethno-Staaten, sowie die Hauptstadt. Die Chief Minister der Staats- und Regionalparlamente werden nicht von den Parlamenten gewählt, sondern vom Präsidenten der Union Myanmar ernannt.)

Was bedeutete die Öffnung des Landes nach Jahrzehnten der Militärdiktatur für die Zivilgesellschaft? Was sollte sich vom Standpunkt der Zivilgesellschaft aus politisch ändern?

Während des langen Kampfes gegen eine autoritäre Militärstruktur wurden die Linien klarer gezogen und die Bedingungen des Engagements einfacher. Ein Großteil der Gesellschaft verabscheute die Junta und die von ihr verursachten Übel. Dies spiegelte sich in den Ergebnissen der Wahlen von 2015 wider. Nun, da eine gewählte zivile Regierung und zivile Partei versucht, ihre Herrschaft und ihr »System« zu konsolidieren und aufrechtzuerhalten, kommen Elemente der Verwirrung, Täuschung und Hinterhältigkeit hinzu.

Was müsste die nächste Regierung tun?

Zum einen muss sie die Entfremdung zwischen den großen Parteien und der Zivilgesellschaft überwinden - was nicht so sehr ein Problem des Staates an sich ist. Dies ist bei der gegenwärtigen Gerontokratie, in der die »Alten« die Geschicke des Staates leiten, schwierig und wird einen Generationswechsel erfordern. Zum anderen braucht es die Schaffung einer robusten Pluralität in der Legislative und der Regierung. Parteien müssen sich dann bei den nächsten Wahlen stärker anstrengen. Beides ist miteinander verflochten, und es wird Welleneffekte geben. Davon hängt die Zukunft des Landes ab.

Im vergangenen Jahr setzte die NLD Kommission ein, die an einer Verfassungsreform arbeiten soll. Wie ist der Stand des laufenden Übergangsprozesses zur Demokratie in Myanmar?

Die Hoffnung auf ein wirklich dezentralisierte Regierung für 2020 bis 2025 darin, dass fähige Regionalregierungen mit einem gewissen Mass an Unabhängigkeit entstehen werden. Einige internationale Geber wie die Asia Foundation legen seit Jahren den Grundstein dafür. Wenn die NLD wieder die nächste Regierung bildet, wäre das aber unwarscheinlich.

Eines der wichtigsten Themen in Myanmar ist der Friedensprozess mit etwa 21 bewaffneten ethnischen Gruppen. Aung San Suu Kyi initiierte die Panglong-Friedenskonferenz. In vier Runden sind einige Fortschritte erzielt worden, aber die Gespräche verlaufen schwierig. Wie ist die gegenwärtige Situation im Friedensprozess?

In den vergangenen fünf Jahren ist der viel gepriesene »Friedensprozess« nirgendwo angekommen, und vielleicht ist es sogar noch schlimmer geworden. Die Kämpfe haben sich in manchen Regionen zwar abgeschwächt, aber sie können jederzeit wieder ausbrechen. Die vierte sogenannte Panglong-Friedenskonferenz war eher ein Versuch, das Gesicht zu wahren und ein letzter verzweifelter Rettungsversuch der gegenwärtigen Regierung.

Myanmar geriet im August 2017 in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit, als nach Angriffen in Rakhine staatliche Sicherheitskräfte bis zu 10 000 Angehörige der muslimischen Minderheit Rohingya töteten und fast 700 000 nach Bangladesch flohen. Wie ist die Lage heute?

Auf eine Politik des monoethnischen Nationalismus für die Mehrheit des Landes zu setzen, kann einer Friedensregelung mit den ethnischen Gruppen im Wege stehen - und damit das erhoffte föderale System verhindern. Es stimmt, dass sich der gegenwärtige hartnäckige Rassismus gegen die unglückseligen Rohingya und zweitens gegen Muslime im Allgemeinen richtet. Aber es ist illusorisch zu erwarten, dass dieser ungehemmte Rassismus einfach aufhören wird. Härte gegenüber den Rohingya zu zeigen, kann zwar die eigene innenpolitische Popularität fördern und die Chance bei den nächsten Wahlen erhöhen. Aber diese Ausgrenzung, Intoleranz, Gefühllosigkeit und der regelrechte Rassismus werden Myanmar auf lange Sicht nach unten ziehen.

Und wie ist die Lage im Staat Rakhine?

Bei den Rohingya ist es eine Nuance schlimmer, denn sie befinden sich zufällig an der Grenze zu Bangladesch, die eine zivilisatorische Bruchlinie darstellt. Der buddhistische Nationalismus der Rakhine ist noch virulenter, und die Rakhine sehen sich selbst als Bollwerk gegen die »dunkle Alien-Flut«. Die bisherige Politik der aufeinander folgenden Regierungen bestand darin, die Rohingya in zwei Grenzstädten einzudämmen, was die Situation nur noch verschlimmerte.

Die Rohingya-Frage stellt Myanmar als eine Prüfung für eine demokratische, buddhistische und humane Gesellschaft dar. So wie die Dinge liegen, scheitert Myanmar in allen drei Punkten. Nach der Isolation eines halben Jahrhunderts der Diktatur gibt es nun ein Wiederaufleben des buddhistisch geprägten Nationalismus und Majoritarismus mit Intoleranz gegenüber Minderheiten. Die »demokratische« Politik ist damit beschäftigt, die Verfassung zu ändern und die Wahlen zu gewinnen. Sowohl die NLD-Regierung als auch das Militär gehen mit der Rohingya-Frage sehr, sehr schlecht um. Ich wiederhole, es gibt einen unerschrockenen Versuch, sich den Populismus nutzbar zu machen.

Welche Optionen hat die Regierung dort jetzt?
Die Regierung hat halbherzig einen Repatriierungsprozess auf der Grundlage der National Verification Card vorgeschlagen (Anm.d.Red.: Papiere, die an Rohingya verteilt wurde, die aber kein Anrecht auf Staatsbürgerschaft geben. Die Rohingya lehnen dies jedoch ab und sagen, sie hätten Anspruch auf die volle Staatsbürgerschaft.

Der Westen hat sich inzwischen abgewandt, die Europäische Union erwägt, die Handelsprivilegien für Myanmar zu kürzen. Was bedeutet die Lockerung der Beziehungen mit dem Westen für das Land?

Die Beziehungen zum Westen hängen in hohem Masse vom Ausgang dieser Wahl ab.

Als der chinesische Präsident Xi Jinping im Januar diesen Jahres Myanmar besuchte, schlossen beide Länder mehrere Investitions- und Handelsabkommen ab. Nähert sich Myanmar immer weiter China an?

Myanmar ist ein sehr geteiltes Land, und dies wird auch in Bezug auf China deutlich. Aung San Suu Kyi und die NLD haben haben ein enges Verhältnis mit der chinesischen Regierung, China würde einen Sieg von ihr beim Urnengang begrüßen.
Als ich im vergnagnen Jahr in China war, wurde mir gesagt, dass China mehr Konflikt mit dem Südchinesischen Meer erwartet. Dadurch gewinnt der Zugang Myanmars zum Meer an Bedeutung. Ein Analyst sagt mir, dass Myanmar nicht China braucht, sondern China braucht Myanmar.

Wie sieht das die Öffentlichkeit in Myanmar?

Die öffentliche Meinung bleibt zum grossen Teil vorsichtig und misstrauisch gegenüber Chinas Aktivitäten, und dies wird schwer zu ändern sein. Schlüsselherausforderungen bleiben bestehen, wie zum Beispiel die Erreichung und Aufrechterhaltung des Friedens.
Beide Grossmächte wissen, wie unfähig die Regierung Myanmars ist, und keine Seite möchte, dass Myanmar in die Hände der anderen fällt. Deshalb arbeiten beide Seiten hart an einer Lösung und an der Aufrechterhaltung des Einflusses in Myanmar für die kommenden Jahre. Dies nennt man »das Beste aus einer schlechten Situation machen«. Myanmar ist auf ausländische Mächte angewiesen, weil es aus eigener Kraft nichts erreichen kann. Myanmar hat zumindest Glück, weil beide Mächte dieses Gleichgewicht aufrechterhalten wollen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.