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Das verwilderte Denken
Von der Französischen Revolution über die »BRD GmbH« zum »Staatsstreich« von Bill Gates: Wie Verschwörungstheorien funktionieren, wann sie florieren – und wie man ihnen begegnet.
Seit Längerem kursiert im Internet ein Witz, mal als Cartoon und mal als Meme. Man sieht eine Herde Schafe, im Hintergrund den Hirten und den Hütehund. Da blökt ein schwarzes Schaf ganz aufgeregt: »Ich sag’s euch: Der Hund und der Mann arbeiten zusammen!« Doch gibt es wenig Reaktion in der Herde. Nur ein Schaf hält gelangweilt dagegen: »Immer du und deine Verschwörungstheorien!«
Um darüber zu lachen, muss man nicht jener Sorte politischer Mythen anhängen, die man Verschwörungstheorien nennt. Doch trifft die Pointe eine Grundhaltung derer, die denselben anheimgefallen sind: die Überzeugung, keineswegs abwegige Zusammenhänge herzustellen, sondern nur eins und eins zu addieren. Eine gewisse Verzweiflung, dass die Mehrheit das Offensichtliche nicht sehe. Das zugleich auch erhebende Trotzgefühl, ein schwarzes, sehendes Schaf zu sein. Und eine Verachtung gegenüber dem »Mainstream« der »Schlafschafe«, den - so der Jargon - sheeple.
Die Gegenwart bietet Anlass, das Phänomen und die Konjunkturen von Verschwörungstheorien - und »alternativen Fakten«, die aus solchen übergeordneten Mythen ihre Plausibilität beziehen - zu ergründen. Und dabei muss wohl die Frage am Anfang stehen, was deren Adepten von ihnen haben. Der aktuelle Boom von Verschwörungstheorien und »Fake News« - der in der Pandemie einen Höhepunkt erreicht, jedoch lange davor eingesetzt hat - sollte aber auch historisches Interesse wecken: Wann erleben solche Orientierungen Blütezeiten? Welche Bedingungen von Öffentlichkeit und welche Verwerfungen im Alltagsverstehen leisten ihnen Vorschub? Doch bevor sich das auch hinsichtlich der Folgerungen diskutieren lässt, die progressive Politik daraus ziehen könnte, muss versucht werden, das Phänomen zumindest grob zu definieren.
Neue Heimat für das Ich
Hierbei scheinen sich vier Eckpunkte anzubieten. Erstens haben Verschwörungstheorien einen wie auch immer gearteten Realitätsbezug, auch wenn der oft nicht unmittelbar ersichtlich wird. Im Grunde geht es dabei immer um Elitenkritik. Selbst die bizarre Behauptung, der Flugverkehr diene tatsächlich dem Versprühen manipulierender Drogen, funktioniert nur vor diesem Hintergrund. Doch wird das Kontra, das man den Mächten und Mächtigen gibt, in Verschwörungstheorien radikal simplifiziert und personalisiert. Zuweilen schwingen antisemitische Motive mit: Bill Gates, George Soros, die Rothschilds oder »Bilderberger« steuern im Verborgenen die Geschicke der Welt.
Zweitens operieren Verschwörungstheorien in einem manichäischen Modus. Sie denken in Schwarz und Weiß und kennen keine Schattierungen. Sie können oder wollen keine Unterschiede zwischen Faschismus, Liberalismus, Konservatismus, Sozialdemokratie, Kommunismus und Anarchismus machen. Kontroversen in den als feindlicher Block wahrgenommenen »MSM« - Mainstream-Medien - fallen unter den Tisch. Zu Richtungskämpfen in bürgerlichen oder linken Medien hat man keine Einstellung.
Drittens steht in den Verschwörungstheorien das Ergebnis jedweder gesellschaftlichen Debatte a priori fest. Entsprechend wird nicht diskutiert, um andere Perspektiven und Erfahrungen kennenzulernen, sondern so, als wisse man schon alles.
Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktischen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderbar, erst recht innerhalb des gegebenen politischen Systems. Die Verschwörungstheorie, die eher individuell vor dem Bildschirm als in einer lokalen Parteiorganisation, Gewerkschaft, Antifagruppe oder Ähnlichem erworben wird, rechtfertigt oft die eigene Inaktivität jenseits des Raunens und Rechthabens in den Kommentarspalten sozialer Medien.
Was haben nun die schwarzen Schafe von ihrem Wissen? Es gibt viele Hinweise darauf, dass individuelle Krisen und Brüche die Hingabe an solche »höheren Wahrheiten« auslösen. Es kann um Wirtschaftskrisen gehen, die Ängste vor Arbeitsplatz- und Statusverlust auslösen; es kann eine versemmelte Prüfung sein, ein Burn-out, eine körperliche oder psychische Erkrankung. Beziehungskrisen können eine Rolle spielen, der Tod geliebter Menschen - und auch der Versuch, eine Sucht zu überwinden: Wenn eine Fortsetzung des bisherigen Lebensweges unmöglich scheint oder ist, wenn Menschen tief verunsichert sind oder gar depressiv erkranken, können Ohnmacht und Sinnverlust in intensive Orientierungssuche münden. Verschwörungstheorien helfen dem Ich, sich gegen akute oder schleichende Ohnmachtserfahrungen neu zu beheimaten.
Neben akuten individuellen Krisen lassen sich mit der Sozialpsychologin Julia Becker dauerhaft prekäre Verhältnisse als ein »chronischer Kontrollverlust« identifizieren, der Verschwörungstheorien attraktiv macht. In deren Beschwörung der »Verarschung« der »Normalen« findet das strauchelnde Subjekt einen Anker. Nach der Kritischen Psychologie von Klaus Holzkamp und anderen ist Handlungsfähigkeit das vitalste menschliche Bedürfnis: Ohnmacht muss überwunden werden, will der Mensch überleben. Die Verschwörungstheorie spiegelt jene Ohnmacht in sich selbst - man wird »belogen und betrogen« - und wirkt darum so plausibel. Sie liefert schmerzlindernde Erklärungen und findet Schuldige am eigenen Leid: »Incel« - alleinstehend wider Willen - sind Männer demnach wegen des Feminismus und der linksgrünen Versiffung. An der Pandemie, die das Geschäft zerstört, ist die von Bill Gates gekaufte Politik schuld.
Je mehr Verschwörungstheorien einen gefahrlosen Kanal für Aggressionen bieten, desto eher neigen sie zum Rechtsradikalismus. Das abstrakte Wüten gegen »das System« konkretisiert sich dann im Angriff auf Schwächere - etwa Geflüchtete. Die Autoritarismusstudien der Kritischen Theorie analysieren dieses »Sich-schadlos-Halten« als Sündenbock-Phänomen. Solcher Verschwörungsglaube ist eine konformistische Rebellion.
Die individuelle Hingabe an solche Mythen, die jäh auf den Kopf stellen, was man für gegeben hielt, ist eine Form von religiöser Bekehrung. Nun sind alle Weltanschauungen in Teilen spirituell. Die Verschwörungstheorie aber kann nicht moderat sein. Im Rahmen sozialpsychologischer Forschungen zu »Amazing Conversions« hat ein Team um den kanadischen Autoritarismusforscher Robert Altemeyer festgestellt, dass Bekehrte fast nie zu moderaten Haltungen tendieren. Das rigide System des Verschwörungsglaubens kennt nur richtig und falsch, klare Wahrheit und schlichte Lüge, absolut gut und vollständig böse, »Erwachte« und »Schlafschafe«. So ähneln sich Bekehrungen zur Verschwörungstheorie, zum Salafismus, zu christlichem Fundamentalismus und zum Neonazismus strukturell.
Zum Beispiel Ken Jebsen
Ein Beispiel für eine - wenn auch nicht rechtsradikal artikulierte - Verschwörungstheorie ist etwa ein Youtube-Kommentar des »Alternativmedien«-Stars Ken Jebsen zur Covid-Krise. Bill Gates habe Deutschland und die Welt »gekapert«, Politik und Wissenschaft gekauft, um von grundloser Panik zu profitieren: Es werde die Bill & Melinda Gates Foundation sein, die bei der kommenden Impfpflicht, auf die mit Macht hingearbeitet werde, dem steuerfinanzierten Gesundheitssystem entsprechende Präparate in Rechnung stellen werde - und so weiter.
Tatsächlich hat die Gates-Stiftung im Februar 2020 angekündigt, 100 Millionen Dollar in Covid-Maßnahmen zu investieren, und diese Summe dann schrittweise aufgestockt. Es sagt wirklich viel über den Zustand unserer Gesellschaft, dass auch die Versorgung von Kranken und das Überleben der Schwächsten immer mehr von Superreichen abhängen, die ansonsten Steuern trickreich vermeiden. In der Tat hat sich das derzeit rund 116 Milliarden betragende Vermögen von Gates seit Krisenausbruch um gut 18 Milliarden vermehrt. Unbestritten kaufen sich Superreiche wie Michael Bloomberg, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, Charles Koch, Sheldon Adelson, Susanne Klatten, die Familie Quandt oder August von Finck jr. in die Politik ein. Geld wirkt, wenn Parteien, politisches Personal oder Unis von derlei Spenden abhängig werden - oder Leute wie Rupert Murdoch und Jeff Bezos wichtige Zeitungen und Sender besitzen, die Kampagnen gegen Umverteilungspolitiker wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn fahren.
Dennoch ist Jebsens Corona-Erzählung, auch wenn sie ihr Urheber als linke Analyse verstehen mag, eine klassische Verschwörungstheorie. Sie verkürzt und personalisiert den Realitätsbezug drastisch. Sie stellt ein absolut gutes Unten einem absolut bösen Oben gegenüber, sie raunt und insinuiert weit jenseits des Belegbaren. Sie wägt nicht ab, sondern setzt ihr Fazit schon voraus.
All das ist offenbar Erfolgsbedingung dieser Erzählung. Während wissenschaftliche Bücher schon bei einem Absatz von 10 000 Exemplaren als Erfolg gelten, wurde Jebsens Kommentar binnen Wochen drei Millionen Mal geklickt. Worin bestehen - jenseits des geschilderten individuellen »Nutzens« - die sozialen Bedingungen dieses Booms? Fast automatisch folgt auf diese Frage der Verweis auf »das Internet«.
Tatsächlich wäre ein Ken Jebsen, der von seinen Weltdeutungserzählungen wohl gar nicht schlecht lebt, ohne die grundlegende Umwälzung der materiellen Bedingungen von Öffentlichkeit nicht möglich, die sich mit den sozialen Medien in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ergeben hat. Facebook wurde 2004 gegründet, Twitter 2006 - und die ersten Instagram-Bildchen landeten 2010 im globalen Datennetz.
Es ist kein Zufall, das der Aufstieg solcher Plattformen mit dem der Verschwörungstheorien zusammenfällt. Mit ihrer viel zitierten Tendenz zur »Blasenbildung« durch ihre technisch-soziale Neigung zum Selbstbezug sind soziale Medien für Verschwörungstheorien wie erfunden: Ein Mythos kann ohne Umwege auf den nächsten verweisen, wodurch sich diese Erzählungen gegenseitig plausibilisieren. Der Quantensprung gegenüber dem »ersten Internet« der 90er Jahre ist im Nachhinein kaum zu überschätzen: Konnte der Soziologe Rainer Rilling noch 1997 feststellen, dass die »politischen Implikationen« der »technische(n) Logik der globalen Hypertextmaschine WWW« in einer Orientierung »auf das politische Zentrum« bestünden, privilegiert seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre das einst sogenannte Web 2.0 die Ränder.
Grüße von der »Großen Furcht«
Doch ist die technische Möglichkeit längst keine hinreichende Erklärung für jene drei Millionen Klicks für Jebsens Corona-Theorie - oder dafür, dass nunmehr mit der Republikanerin Marjorie Taylor Greene eine erklärte Adeptin der Verschwörungstheorie QAnon in den USA einen Parlamentssitz gewann: Nutzbar wären diese Möglichkeiten ja auch anders. Dass das in westlichen Ländern bis Februar 2020 undenkbare Notstandsregime naheliegend verwildertes Denken hervorruft, ist auch noch nicht der Grund allein. Der enorme Impetus jener Corona-Mythen stützt sich auf einen Vorlauf: Schon seit etwa 2010 - sichtlich im Nachgang der »Finanzkrise« von 2008 ff. - erleben Narrative einer verzerrten Elitenkritik einen Boom. Von der »BRD GmbH«, zu deren Ablegern die »Reichsbürger« zählen, von der Überskandalisierung der »Bilderberger«, von den antisemitisch konnotierten Mythen um »die Rothschilds« und die US-Bundesbank im Umfeld der Ukraine-Krise von 2014 führt ein Pfad zur »plutokratischen« Deutung von Covid-19 im Bill-Gates-Narrativ. Und jenes US-amerikanische Mythensystem um QAnon, das Donald Trump als Held im Endkampf gegen »Deep State« und die Pädophilie- und Kindesmordpraktiken der »liberalen Eliten« hochjubelt, ist da bestens kompatibel.
Wer diesen Boom verzerrter Mythen etwa auf Querschusstaktiken russischer Public Diplomacy reduziert, steht selbst schon fast im Feld der Verschwörungstheorie. Es neigen manchmal eben auch die Eliten zu verzerrten personalisierten Mythen - wie etwa Hillary Clinton, die in ihrem Buch »What happened« ihre Niederlage von 2016 einem verschwörerischen Wirken von Wladimir Putin und Bernie Sanders zuschrieb. Um solche Kurzschlüsse zu vermeiden, ist es hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und allgemeiner zu fragen, unter welchen Bedingungen Verschwörungstheorien florieren. Hierbei hilft ein Blick in die Geschichte.
Die Formierung des Faschismus in den 30er Jahren kann durchaus unter dem Rubrum der Verschwörungstheorie diskutiert werden; vielleicht gilt das auch für manche Elemente des historischen Stalinismus. Eine andere, nur auf den ersten Blick überraschende Parallele drängt sich hingegen auf: Die Französische Revolution war nicht nur jener Sieg von Vernunft und Aufklärung, als die sie heute gilt. Je näher man die tatsächlichen Ereignisse betrachtet, desto unzutreffender erscheint diese Idealisierung.
So stand 1793 im Prozess gegen Königin Marie Antoinette der abwegige Vorwurf des Kindesmissbrauchs - QAnon lässt grüßen - im Zentrum der zeitgenössischen Aufmerksamkeit, weit mehr als der »Hochverrat« oder ihre Rolle im feudalen Unterdrückungssystem. Grundsätzlicher noch hat der Historiker Georges Lefèbvre gezeigt, wie wichtig gerade jene populären Mythen im Revolutionsgeschehen waren, die wir heute als Verschwörungstheorien bezeichnen. Für die Durchsetzung der Revolution in der Fläche war die »Große Furcht« bedeutender als philosophische Salons oder die Ränke der Nationalversammlung: Eine vage Panik vor Bettlern, Räubern und Meuchelmördern griff im Sommer 1789 im ländlichen Frankreich um sich - und man glaubte, der Adel habe diese Banden geschickt. Vielerorts waren es nun genau diese Erzählungen, die den Startschuss zum Sturm auf Feudalschlösser gaben - und als die Nationalversammlung am 4. und 5. August 1789 daranging, die Adelsprivilegien zu schleifen, berief sie sich auch darauf, dass diese wilden Aufstände quasi eingehegt werden müssten.
Die »Große Furcht« war eine Kulmination typischer Verschwörungstheorien. Natürlich hatte der Adel Reaktionsgelüste - und dass er auch nach der extremen Dürre von 1788 auf seine Feudalrente pochte, trieb wohl tatsächlich viele in Mundraub oder Wegelagerei. Doch erst in der personalisierenden Verzerrung kam es zur Massenmobilisierung - und dass hierbei nicht nur Adlige, sondern etwa im Elsass auch Juden attackiert wurden, passt durchaus ins heutige Bild des Verschwörungsglaubens.
Die historische Verfremdung zeigt nun ein Muster für Situationen, in denen Verschwörungstheorien massenwirksam werden: Erstens ist eine längerfristige, schleichende Legitimationskrise der bestehenden Ordnung vonnöten. Damals unterminierten die Skandale - etwa die berühmte »Halsbandaffäre« um ein teures Schmuckstück für Marie Antoinette - und die sprichwörtliche Dekadenz des Adels und des Hofes das Dogma von der Gottgegebenheit des Feudalismus. Heute macht es die offensichtliche Lobby- und Expertokratie zunehmend schwer, die schöne Geschichte von der repräsentativen Demokratie zu erzählen, deren Prozesse sicherstellen, dass alle berücksichtigt werden.
Zweitens braucht es ein neues Medium, wobei es hilft, wenn dieses noch nicht »beherrscht« wird: 1789 war die Alphabetisierung so fortgeschritten, dass auch in den Dörfern Gazetten und Flugschriften gelesen wurden - oft freilich nicht sehr gut, wodurch sich Geschichten verselbstständigten. Heute gibt es die sozialen Medien, die von vielen nicht wirklich verstanden werden.
Drittens ist ein jäher, einschneidender Anlass vonnöten, ein Ereignis der Beschleunigung, der jene schwelende Legitimationskrise dann in wilden Erzählungen konkret werden lässt - was damals die Dürre von 1788 bei ungebrochener Profitsucht des Feudalismus war, sind heute Ereignisse wie 2008 - und eben 2020.
Zugegeben: Diese Analogie greift hoch. Vielleicht hilft sie aber gerade deshalb nicht nur dabei, sich klarzumachen, dass die gegenwärtige Situation potenziell epochal ist, sondern auch, gegenüber dem aktuellen verschwörungstheoretischen Boom eine Position zu finden. Zumindest sollte es zu denken geben, dass mit am Anfang jener großen Revolution, deren Prinzipien von Vernunft und Aufklärung man heute unwillkürlich gegen den Wahn der Verschwörungstheorie verteidigen will, gar nicht zuletzt eine Häufung gerade solcher politischer Mythen stand.
Der Affekt der Vernunft
Sozialtheoretisch gesprochen: »Das Denken« wird oft überschätzt. Die klassisch »aufgeklärte«, auf René Descartes’ »Cogito ergo sum« zurückgehende Trennung von Gefühl und Verstand, von Emotion und Kognition, von Bewusstsein und Sein, wird den tatsächlichen mentalen Operationen der Menschen nicht gerecht. Diese beherbergen neben vernünftiger Erkenntnis immer auch sozial eingebettetes Fühlen. Schon von Karl Kautsky, Walter Benjamin und Ernst Bloch ist zu lernen, dass gerade der Sozialismus immer von einer gewissen Spiritualität getragen wurde. Und ganz besonders der stets so penetrant an die Ratio appellierende Liberalismus ist mehr religiöse Glaubenslehre als sonst irgendetwas, zumal in seiner Gestalt als Wirtschaftsliberalismus.
Was das politisch bedeutet, wenn man auf Verschwörungstheorien trifft? Dass der Versuch »rationaler« Aufklärung nicht nur höchst anstrengend ist, sondern auch der falsche Ansatz. Es wird höchstens in wenigen Ausnahmefällen gelingen, die Verzerrungen, die über der verschwörungstheoretischen Elitenkritik liegen, argumentativ auszuräumen und die Bedürfnisse, die hinter diesen Mythen stehen, auf diesem Weg in progressive Herrschaftskritik zu überführen. Wer sich aber vergegenwärtigt, dass die mentale und letztlich auch politische Orientierung von Menschen - und zwar auch von solchen, die sich selbst für ausnehmend »aufgeklärt« halten - weit mehr auf Affekt und Reflex, auf »Chemie«, auf Systemen von Zu- und Abneigung fußt denn auf jener »puren Vernunft«, die nach einem Songtext der Band Tocotronic »niemals siegen« darf, kann immerhin eine indirekte Empfehlung aus all dem ziehen: So richtig es ist, dass Verschwörungstheorien verkehrt sind, so wenig sollte sich eine wirksame Praxis ihnen gegenüber auf das Feststellen oder Verspotten jener Verzerrung beschränken. Genau jener zuweilen geradezu überschießende Hohn im Dienste der Vernunft verweist ja selbst auf eine affektive Motivation.
Gewiss ist es »Fakt«, also wissenschaftlich zu ermitteln, dass die verzerrte Elitenkritik von Verschwörungstheorien anschlussfähig ist für allerlei Unappetitliches bis hin zum Antisemitismus. Keineswegs zwangsläufig müssen sich potenzielle Verbindungen aber auch schließen. Das Wuchern des verwilderten Denkens verweist vielmehr auf ein politisches Vakuum, das durch die Schwäche einer antikapitalistischen Linken entsteht. Eine gesellschaftsverändernde Linke müsste Kontexte von Solidarität schaffen, in denen sich jene schwarzen Schafe neu orientieren können. Wobei hier die Vernunftleistung darin bestünde, auf eine allzu rigide Vernunftprüfung im Vorhinein zu verzichten. Denn soziale Transformation ist nichts, was als »Programm« auf eine Bewusstwerdung folgt, sondern sie ist selbst Bewusstwerdung in kollektivem Handeln.
Gewiss ist eine solche inklusive Politik schwierig. Die Frage, wie weit sich die seit 2008 verbreiteten und heuer massiv verstärkten Verschwörungstheorien bereits reaktionär vereindeutigt haben - und wo daher Grenzen sein müssten für jene zuzulassende Unvernunft -, ist eine strategische Herausforderung. Ganze soziale Felder schon bei Spuren »unreinen« Denkens abzuschreiben, ist aber nicht nur unpolitisch, sondern zeugt auch von geringem Selbstbewusstsein. Denn eins hat progressive Kritik der konformistischen Rebellion der Verschwörungstheorie voraus: einen Horizont der Auflösung. Zum Beispiel die jetzt geforderte Vermögensabgabe zur Krisenfinanzierung, die zwar noch nicht transformatorisch ist, aber den Rahmen bilden könnte für ein dynamisches Feld von Solidarität, in dem sich aus der Bahn Geworfene neue Wege suchen könnten.
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