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Ruhelos bis zur letzten Minute

Zum Tod von Herta Kuhrig

  • Gisela Notz
  • Lesedauer: 3 Min.

Bis zur »Wende« war Herta Kuhrig Leiterin der Forschungsgruppe »Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft« und Vorsitzende des gleichnamigen Wissenschaftlichen Rates bei der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie Mitglied der Frauenkommission beim Politbüro des ZK der SED. Sie war verantwortliche Redakteurin der »INFORMATIONEN. Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft«, auch grüne Hefte genannt. Die gesellschaftlichen Veränderungen 1989/1990 bedeuteten für sie einen tiefgreifenden Einschnitt. An ihren frauen- und später auch seniorenpolitischen Vorstellungen arbeitete sie auch nach der »Wende« weiter. »Die Monate bis zum März 1990, das war die Zeit hoffnungsvoller demokratischer Bewegungen voller Visionen«, sagte mir Herta später in einem Interview. Bis dahin und auch nachher hat Herta Kuhrig viel erlebt.

Am 5. September 1930 wurde sie in Thierbach, nähe Karlsbad in eine kommunistische und atheistische Arbeiterfamilie hinein geboren. Vom Großvater und vom Vater hatte sie die Hoffnung auf eine friedliche und sozial gerechte Gesellschaft übernommen. Nach der Machtübergabe an die Nazis war sie gerade drei Jahre alt. Probleme bekam sie erst, als man ihr beim Einkaufen beibrachte, dass der Gruß nun mehr »Heil Hitler!« lautete.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wollte sie an der Erfüllung der Hoffnung auf eine neue Gesellschaft arbeiten. Sie trat in die SED ein, weil es die KPD nicht mehr gab. Sie war das erste Mitglied ihrer Familie, das studieren durfte, lernte während des Studiums die Grundzüge der materialistischen Dialektik kennen und entwickelte die Überzeugung, dass die Welt durchschaubar, erklärbar und veränderbar ist. »Solidarität und proletarischer Internationalismus« standen für sie ganz obenan. Nach dem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule für Ökonomie und Planung in Berlin. Die Konflikte einer berufstätigen Mutter erlebte sie auch in der DDR, trotz flächendeckender Krippen und Kindergärten. Nicht zufällig wählte sie das Dissertationsthema »Probleme der Entwicklung sozialistischer Familienbeziehungen in der DDR«. 1973 wurde sie an der Akademie als Professorin berufen.

1990, im Jahr der Wiedervereinigung, schickte die Akademie sie in den »Ruhestand«. Das sozialistische Haus, in dem ihre Hoffnung wohnte, war wie ein Kartenhaus zusammen gebrochen. Damals war sie 60 Jahre alt; wirklich Ruhe hat es für sie nie gegeben. Sie wollte sich nicht zurückziehen, »weder in Küche und Haushalt, noch in den Schmollwinkel, noch sonst wohin«, wie sie sagte. Gleich 1991, als die Seniorenvertretung Köpenick gegründet wurde, war sie dabei und war fast 20 Jahre Vorsitzende der Seniorenvertretung Treptow-Köpenick und damit Mitglied des Landesseniorenbeirates und der Landesseniorenvertretung. Auch dort setzte sie sich über das Generationsverhältnis hinaus für ebenbürtige Geschlechterverhältnisse ein. 2013 erhielt sie die Bürgermedaille des Bezirkes.

Die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern und die Heuchelei, die sie an so vielen Orten erleben musste, machten Herta Kuhrig zu schaffen. Sie verstand es perfekt, die Widersprüchlichkeiten und die Errungenschaften ebenso wie die Risiken der DDR-Frauen- und Familienpolitik zu erklären und zu kritisieren, ohne sich von ihrer eigenen Arbeit zu distanzieren und es gelang ihr in ihrer lebendigen Art und Weise, ihre Erfahrungen bei Vorträgen und in Frauengruppen an jüngere Frauen weiter zu vermitteln.

Am 2. November schloss Herta Kuhrig die Augen für immer. Die »bessere, gerechtere Welt«, die sie sich erhofft hatte, konnte sie nicht mehr erleben.

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