Ist Wahrheit lustig?

Best of Menschheit, Teil 45: Lügen

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 4 Min.

Joe »Joseph« Biden, ein zum US-Präsidenten gewählter eventuell netter alter Herr, hat in einer Rede vor Autofahrer*innen angekündigt, einiges für sein Land wiederherzustellen: unter anderem Vertrauen, die Seele Amerikas und Wahrheit. Und mindestens das mit der Wahrheit ist schon ein wenig lustig, denn der Mann ist Teil eines Betriebs, der noch in keiner Menschengesellschaft je ehrlich sein konnte: Politik.

Biden weiß das und lügt trotzdem. Er sagt es, weil sein Vorgänger ständig infantil und durchschaubar lügt und er das andere sein will; nämlich das weniger durchschaubare Dehnen und Vermarkten der Wahrheit. Die politische Lüge soll wieder eine gezielt taktische Waffe werden, statt ein albernes Kreuzfeuer zu bleiben. Das Vertrauen, das da zurückkehren soll, ist das Vertrauen in wohldosierten Selbstbetrug, wie etwa den, ein Land habe so etwas wie eine Seele.

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger wird Biden nicht von der »New York Times« seine Lügen aufgelistet bekommen. Denn es gibt ein gemeinsames Projekt: Es soll die kapitalistische Demokratie vor ihrem Zerfall geschützt werden. Ein System, das auf Lügen wie der aufgebaut ist, dass jede Wahlstimme gleich viel zählt oder der, dass Erfolg auf sogenannter Leistung basiere. Die erste Lüge wehrt sich gerade erfolgreich gegen die heillosen des Gegners, die zweite Lüge emanzipiert sich gerade von der weißen Vorherrschaft und muss zur Inklusion anderer Identitäten neu erzählt werden.

Aber diese Beobachtung ist auch schon wieder nicht ganz ehrlich. Zumindest deutet sie an, es könne so etwas wie ein ehrliches System geben. Was ich - ehrlich gesagt - nicht glaube. Alle, die je den Versuch unternommen haben, eine größere Gruppe Menschen auf irgendwas zu verpflichten, ahnen, wie notwendig Unehrlichkeit ist - und sei es nur, um irgendwie voranzukommen. Und jede Alternative zum Kapitalismus, man muss es leider zugeben, war mindestens genauso verlogen. Oft als Antithese zu den kapitalistischen Lügen.

Zudem sind die menschliche Wahrnehmung und Erinnerung grundsätzlich so fehleranfällig, dass die Menschheit selbst nach der Verschriftlichung ihrer Beobachtungen Jahrtausende benötigte, um ein einigermaßen verlässliches System der Verobjektivierung zu finden: die Wissenschaft. Auch so etwas, was der nette Joe wieder respektieren möchte - aber, zum Beispiel in Sachen Klimakatastrophe, dann doch nicht tun wird. Weil die Politik, wie auch die Wissenschaft, genau dem Kapitalismus unterworfen ist, der diese Katastrophe wenn auch nicht zwingend alleinig verursacht, aber sicher maßlos beschleunigt hat.

Selbst scheinbar zuverlässige Veräußerungen von Informationen, die der Mensch geschaffen hat, Fotografie und Film, sind nicht frei von den Lügen der menschlichen Wahrnehmung, den bewussten wie unbewussten Manipulationen. Das menschliche Bewusstsein ist im Grunde ein deep fake. Aus evolutionärem Nutzen.

Es braucht nun mal viel Ignoranz und Fantasie, um die destruktive Gewalt, die die Natur zumeist für den Menschen war (und dazu die Gewalt des Menschen für den Menschen) zu überstehen, ja im besten Fall zu bändigen und zu kultivieren. So sehr ist die Lüge Grundlage menschlichen Denkens, dass der Homo sapiens trotz der Erkenntnisse der hart erarbeiteten Wissenschaft seine Zivilisation zerstört.

Denn die Lüge ist vertrautes Territorium, die Wahrheit diesem eine Gefahr. Ohne Lüge kein Glauben, ohne Lüge keine Politik, ohne Lüge keine Kultur, kein Humor, keine Ironie, keine Musik, keine Sprache, keine Malerei, keine Literatur. Denn nichts weiter ist Text: eine subjektive Auswahl der Wirklichkeit, die eine andere, eine eigene, herstellen soll.

Die wiederum mit denen der anderen in Verhandlung steht. Das ist das eigentliche Problem der Trumps dieser Welt: sie verhandeln nicht. Ihre Lügen sind unflexibel. Sie verlangen, dass alle mit ihnen das Gleiche lügen.

Die Bidens dieser Welt bieten an, Lügen anderer in ihr Lügengebilde aufzunehmen, auf dass eventuell so etwas wie Wahrheit auch mal Recht behalten kann. Besser aber wäre schon eine Welt, in der man über die Verlogenheit ihrer Einrichtung auch als US-Präsident ehrlich sein könnte.

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