Kunst gehört uns
Open Mike, der Wettbewerb für junge Literatur, wird politisch
»Das geht an all die Kanakenkinder, an all die Nomadenkinder, an all die Harz-4-Empfänger-Kinder: Kunst gehört auch uns«, sagt Nail Doğan in die Kamera. Gerade hat er für seine Gedichte nicht nur einen der drei Hauptpreise des 28. Open Mike, dem deutschsprachigen Wettbewerb für junge Literatur, sondern auch den »taz«-Publikumspreis gewonnen. Vorgestellt wurde er von der Jury als »Sohn eines Gasttaxifahrers, einer Gastputzfrau«, Jahrgang 1988, in Hamburg lebend, fingernägelkauend, sich-über-Wasser-haltend, vielleicht durchs Schreiben.
Die Worte verhallen in den leeren Räumen des Heimathafens in Berlin-Neukölln, vielbesuchter Veranstaltungsort unzähliger Events. Doch an diesem Festivalwochenende sitzen hier nur einige wenige Menschen: Die Mitarbeiter*innen des Open-Mike-Veranstalters »Haus für Poesie«, die Jury und Lektor*innen, die Bloger*innen. Per Livestream werden die nicht anwesenden Autor*innen vorgestellt, die wiederum ihre Texte vorab auf Video aufgenommen haben und die nun für das digitale Publikum abgespielt werden. »Den Beifall müssen wir uns dazu denken«, sagt Thomas Wohlfahrt, Leiter des »Hauses für Poesie« auf der Bühne. Damit man auch mitlesen kann, sind die Texte als Anthologie im Allitera-Verlag erschienen.
Manchmal hilft es nämlich, das gedruckte Wort zu sehen, während man Nail Doğan lauscht. Er entwickelt eine Kaskade an assoziativen Begriffen, die einen mitnimmt und mitreißt, in der man sich aber auch schnell verlieren kann. »Außerdem kennt Onkel Mustafa das Wort Achselhöhle nicht«, beginnt er das Gedicht »Göttinspeise«. Erheiternd und einfach macht er einem den Einstieg. Und dann verknoten sich die Sprachen zu einem größeren Ganzen, denn im Türkischen heißt koltukaltı nicht nur »Achselhöhle«, sondern auch »unter dem Sessel«. Doğan wird nahezu dramatisch, fast theatralisch sitzt er in dem Video vor einem Vorhang auf dem Drehstuhl, schmeißt die Blätter der vorgelesenen Gedichte nach und nach in einer abrupten, geschwungenen Bewegung zu Boden.
Eine ähnlich sprachliche und thematische Vielfalt zeigen auch die restlichen Festivaltexte auf, die von dystopisch-utopischen Zukunftsvisionen, kollektivem Schweigen oder dem Verhältnis von Mensch und Natur handeln. Und sie paaren sich mit einer Vielzahl elliptischer Sätze, wilden Rhythmen und kunstvollen Satzkompositionen. Es gibt auch Sätze, die nicht enden wollen, die einen mitziehen wie ein Fluss an Wörtern und Gedanken, in die Geschichte einer Frau, die durch die Natur streift, auf der Suche nach ihrem Onkel: Mit ihrem Text »Hippobosca« hat Rebecca Gisler ebenfalls einen der drei Preise gewonnen. Und auch Josefine Soppa hat für ihren Romanauszug »MIRMAR« einen Preis abgeräumt. Zuvor hatten Lektor*innen sie aus etwa 600 Einsendungen ausgewählt.
»Diese unheimliche Stille, wenn jetzt sonst alle laut tuschelnd aus dem Saal strömen würden«, schreibt ein User am Nachmittag auf Twitter. Denn in den Pausen sitzt der digitale Zuschauer plötzlich vor surrender Stille. Schaut sich im Zimmer um, lüftet, setzt Kaffee auf. Das verlorene Herumstreifen durch die Wohnung wird durch ein lautes »Bing, bing, bing« durchbrochen. Es ist die Telegram-Gruppe des Open Mike. Als eine Art »digitale Heimathafen-Pausenhof-Stimmung« beschreiben die Blogger*innen ihren Kanal. Der Pausenhof füllt sich, 72 Zuschauer*innen schicken jetzt Applaus-Gifs, Fotos von sich beim Anstoßen, ihren Heimsitzplätzen und Popcornschalen. Plötzlich ist sie da, die Community, die durch Corona verloren geglaubte Schaugemeinschaft, die allen so fehlt. Auch auf Twitter, Youtube und Facebook gibt es Chats, Austausch und Updates. Das Haus für Poesie hat es durch das aktive Bedienen vieler verschiedener Plattformen geschafft, das Erlebnis so erlebnisreich wie möglich zu gestalten, auch wenn man dabei auf der heimeligen Couch sitzt. Am Ende bleiben die Fingerabdrücke auf dem Smartphone, die vielen offenen Tabs am Computer und ein vor Lyrik schwirrender Kopf zurück. Und die Auseinandersetzung mit der Frage: Wem gehört die Kunst?
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