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Nachkriegsnot und Abgründigkeit
Haben Sie Mut, sich eines eigenen Abos zu bedienen: Eine kleine Literaturzeitschriftenlese – in Print und nicht digital
Die Chance, dass Sie diesen Text nicht auf einer bedruckten Seite Zeitungspapier lesen, sondern online, am Bildschirm, vielleicht als E-Paper, diese Chance ist ziemlich hoch. Print steht lange nicht mehr hoch im Kurs, Tageszeitungen wie Magazine haben’s bekanntlich schwer. Trotzdem gibt es im deutschsprachigen Raum immer noch jede Menge Literaturzeitschriften, die unermüdlich, für gar kein oder sehr wenig Geld meist zwei- oder viermal im Jahr erscheinen und dem Publikum Prosa, Gedichte, Essays zu lesen geben, auf die es nirgendwo anders gestoßen wäre.
Sollten Sie einmal Germanistik studiert haben, wissen Sie eventuell, dass Friedrich Schiller zwei Jahre lang versucht hat, eine Zeitschrift namens »Die Horen« zu betreiben, Ende des 18. Jahrhunderts. Rund 160 Jahre nach ihm wurde sie in Hannover neu gegründet von Kurt Morawietz, der Titel wurde in zeitüblicher Kleinschreibung gesetzt. Das aktuelle Heft beschäftigt sich mit zwei großen Außenseiterfiguren der deutschsprachigen Literatur: Christian Geissler und Inge Müller.
Geissler (1928–2008) gehört sicherlich zu den interessantesten kommunistischen Literaten der alten BRD: In seinem Roman »Anfrage« (1960) verwies er als Erster auf Kontinuitäten des Nationalsozialismus in Westdeutschland, in »kamalatta« (1988) beschäftigte er sich, sprachlich experimentell, mit der RAF. Geisslers Witwe Sabine Peters hat ein Dossier zusammengestellt, das »neue Blicke auf Leben und Werk« ermöglicht. Darunter finden sich unter anderem bildkünstlerische Beiträge, etwa Tuschebilder, Ölgemälde, Collagen, eine autobiografische Skizze und ein langes Gedicht des Autors selbst. Die Dichterin Kathrin Hensel schickt dem Toten einen Brief, es geht um Hörspiele, Filmskripte eines Mannes, der sich nie abfinden wollte mit der postnazistischen Normalität.
Von der Dichterin Inge Müller (1925–1966) ist den meisten bekannt, dass sie mit Heiner Müller verheiratet war und ihrem Leben mit dem Kopf im Gasherd ein Ende setzte. Das von Tom Schulz zusammengestellte Dossier demonstriert, wie ihr schmales Werk über Generationen hinweg Schreibende, bei aller thematischen Dunkelheit, Nachkriegsnot und Abgründigkeit, dazu ermutigt, sich mit Lyrik in ein kämpferisches Verhältnis zur Welt zu setzen. Annett Gröschner, Sylvia Geist, Kerstin Schulz und Jayne-Anne Igel haben Müller gewidmete Gedichte für dieses Heft verfasst, Kerstin Preiwuß analysiert in »Eine andere Stunde Null« Müllers Poetik. Es sind Annäherungen an eine Schriftstellerin, deren Texte bei allem abgebildeten Leid doch fordern: Weiterschreiben!
Eine ganz andere Schriftstellerin, Lynn Hejinian, wie Müller eine literarische Ausnahmeerscheinung und ein Glücksfall für deutschsprachige Leser*innen, steht im Mittelpunkt der Zeitschrift »Schreibheft« aus Essen, die seit Jahrzehnten Avantgarden, die drohen vergessen zu werden, in aufwändigen Dossiers vorstellt. Hejinian, die vergangenes Jahr im Alter von 82 Jahren verstarb, wird gemeinhin der Language Poetry zugeordnet. Deren Vertreterinnen begannen in den USA der späten 60er — also zu Zeiten der Anti-Kriegs- und Bürgerrechtsbewegung —,Texte zu schreiben, bei denen Sprache nicht mehr als funktionaler Bedeutungstransmitter benutzt wird, sondern korrekte Grammatik, Zeichenhaftigkeit, narrative Strukturen in Frage gestellt, um neue Weise des sprachlichen Wahrnehmens zu erkunden und nicht durch Endkonsumententsprachmüll und Propaganda abzustumpfen.
Hejinian gelang mit »My Life« (1980) ein wunderschöner Text, der keine Autobiografie anhand chronologischer Ereignisse zusammenschreibt, sondern sprachliche Ereignisse aufeinander folgen lässt, die keinen strengen linearen Strich durch einen Lebensweg ziehen, sie suchen in jedem Augenblick freie Formen sprachlichen Ausdrucks. Norbert Lange und Sonja vom Brocke, die das Dossier zusammengestellt haben, gelingen Hejinian-Übersetzungen, indem sie deutsche Sätze und Verse elastisch machen, ohne sie artistisch zu verbiegen.
Bewegen wir uns Richtung Jetzt: Die Leipziger Literaturzeitschrift »Edit« beweist seit Jahren, dass man klug am Puls der Zeit Texte sammeln kann, ohne verängstigt der Gegenwart hinterherzuhecheln. In der aufwändig gestalteten Frühjahrsausgabe finden sich sehr unterschiedliche Spielarten literarischen Schreibens, das auf die ollen Kategorien von Markt und Schule wenig gibt: lyrische, assoziationsgetriebene Prosa, protokollartige Texte, mehrspaltige Gedichte und solche über Internet-Kultur, Zeichnungen von Lina Ehrentraut, die einen Comic ergeben.
Ein besonders einsichtsreicher Beitrag ist das Gespräch zwischen Therese Luserke und Ruth-Maria Thomas über weibliches Schreiben. Es geht um »die Macht der Erwartungshaltung«, um »das alte Klischee, Männer würden nicht gerne und nicht viel über sich reden«, und darum, dass die »Geschichte von Frauen durch Hände rinnt wie Sand«, von Generation zu Generation. Und um die Frage, ob weibliches Schreiben wirklich als Kategorie gedacht werden sollte und nicht eher als Prozess. Der Romanauszug »Mutter Mevlüde« von Özlem Özgül Dündar kann nach dieser Diskussion vielleicht mit einem neuen Blick gelesen werden, denn Dündar schreibt eine Anrufung, den Versuch eines Gesprächs. Sie versucht, jemanden zurückzuholen, und formuliert nicht aus einer Alles-Checker-Erzählhaltung, die Ordnung ins Leben bringen möchte.
Das jüngste Periodikum in dieser Zeitschriftenlese trägt den Titel »Berlin Review«: Kontinuierlich erscheinen online Essays, die meistens aus Rezensionen einzelner oder thematisch verwandter Bücher entstehen, sich aber nicht mit Zusammenfassung, Einordnung, Urteil begnügen, sondern sich abheben vom Besprechungsgeschäft, um weiterzudenken. Viele Beiträge stammen von Akademiker*innen, es kommen aber auch immer wieder Dichter*innen und Künstler*innen zu Wort. »Unser Fokus bleibt Kritik«, sagte Gründungsredakteur Samir Sellami im vergangenen Jahr in einem Interview mit »nd«. Man findet hier Texte über den Nahost-Konflikt, die in Zeiten der großen Staatsräson in Deutschland kaum ein Intellektuellenblatt mehr drucken würde.
Dreimal im Jahr erscheint die »Berlin Review« als Print-Ausgabe, schick gestaltet, mit einer Fotoreihe von Anne Lass. Hier findet sich ein Vorabdruck aus dem neuen Band mit Erzählungen der argentinischen Weltklasseliteratin Samanta Schweblin, der brasilianische Dichter Ricardo Domeneck porträtiert seinen früh verstorbenen Landsmann Victor Heringer, der auf Deutsch im März-Verlag erscheint. Die in Wien ansässige Britin Miriam Stoney macht sich Gedanken über den riesigen Erfolg der Romanautorinnen Rachel Cusk (USA) und Sally Rooney (Irland). Elad Lapidot aus Israel nimmt sich des komplexen Diaspora-Begriffs der oft gescholtenen Judtih Butler an. Weiter hinten im Heft kann man den Reflexionen von Diedrich Diederichsen über das Völkisch-Libertäre und seine eigenen Fehleinschätzungen über neoliberale Traditionalismus-Auswüchse folgen; der Text trägt den schönen Titel »Das Rohe und das Kettengesägte«, eine Anspielung auf den Ethnologen Levi-Strauss.
Es lohnt sich, nach wie vor, die hier vorgestellten Zeitschriften zu abonnieren, zu lesen, am Laufen zu halten. Das Internet ist immer schneller, aber wenn es darum geht, abseits der Algorithmen Texte zu entdecken, auf neue Namen zu stoßen, sich für Texte wirklich Zeit zu nehmen, sind die gedruckten viereckigen Papierdinger vorzuziehen.
die horen Nr. 298. Wallstein. 264 S., 16,50 €.
Schreibheft Nr.104. Rigodon. 160 S., br., 16,50 €.
Edit. Nr. 94. 123 S., br., 12 €.
Berlin Review Reader 3. 124 S., br., 14 €.
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