Zwischen Zukunftsangst und Gottvertrauen

Ein Durcheinander voneinander abweichender und wechselnder Regeln verunsichert die Italiener zunehmend - und lässt die Aggressionen steigen

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 5 Min.

Italien gleicht einem Flickenteppich: Die 20 Regionen des Mittelmeerlandes sind in rote, orange und gelbe Gebiete aufgeteilt, in denen unterschiedliche Corona-Regeln gelten. Rot sind unter anderem die Lombardei, in der das Virus besonders virulent ist, aber auch Kalabrien, die Toskana, Südtirol und Kampanien mit Neapel; orange sind die Regionen, die nicht ganz so stark betroffen sind, wie Sizilien, die Emilia-Romagna und Apulien, während nur vier Regionen, darunter Latium mit Rom, gelb verzeichnet sind, weil man dort die Pandemie offenbar besser im Griff hat. Mit bisher mehr als 1,2 Millionen Coronafällen und 46 464 Covid-19-Toten bei 60 Millionen Einwohnern ist Italien stark von ihr betroffen.

21 objektive Kriterien haben das Amt für Katastrophenschutz und die Regierung eingeführt, um die jeweilige Farbe zu bestimmen: zum Beispiel die Anzahl und Auslastung der Intensivbetten, der Reproduktionsfaktor, die Sterblichkeitsrate und die Fähigkeit, die Krankheitsfälle zurückzuverfolgen. Aber obwohl es sich um eindeutige Kriterien und Zahlen handelt, und obwohl die Regierung immer wieder betont, dass die Farbe Rot keine Strafe sei, sind viele Regionen mit ihrer Klassifizierung nicht einverstanden und vermuten, dass politische Gründe dahinterstecken. Das führt zu schier unendlichen Diskussionen und Streitereien, die seitenweise die Zeitungen füllen.

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In den roten Gebieten bleiben die meisten Geschäfte, die Restaurants und Bars geschlossen, kann man seine Wohnung nur unter bestimmten Umständen verlassen, darf man sich nur in der eigenen Gemeinde aufhalten und zumindest die älteren Schüler bleiben nur über Computer mit der Schule verbunden. In den gelben Regionen darf man das Haus zwischen 22 und 5 Uhr nicht verlassen, schließen alle Gaststätten um 18 Uhr und die Einkaufszentren und Märkte am gesamten Wochenende. Kinos, Theater und Museen sind überall geschlossen.

Als ob das nicht schon kompliziert genug wäre, können die Regionen auch zwischen den verschiedenen Farben hin- und herpendeln, wenn sich die Bedingungen ändern.

Die Menschen sind verunsicherter denn je. Die Gefühle schwanken zwischen Wut und Resignation, Panik und Zuversicht, Zukunftsangst und Gottvertrauen. In den Familien und auf den Straßen erzählt man sich nur all das Schlimme, das sich ereignet. Inzwischen kennt jeder irgendeine Person, die positiv getestet wurde oder die mit Infizierten zusammengetroffen ist. Aber keiner weiß so richtig, wie man sich in so einem Fall zu verhalten hat. Wer muss einen eventuellen Test anordnen? Es wird von den Behörden immer wieder unterstrichen, dass die jeweiligen Hausärzte zuständig sind - aber die gehen oft nicht ans Telefon, weil sie vollkommen überlastet sind und geben dann auch noch unterschiedliche Empfehlungen ab. Auf Testergebnisse wartet man mal nur 24 Stunden, andere Male eine Woche - oder sie kommen überhaupt nicht.

Und wer muss denn nun eigentlich in Quarantäne, wenn zum Beispiel in einer Schulklasse ein Kind positiv getestet wurde? Die ganze Klasse oder auch die jeweiligen Familien? Und was ist mit den Großeltern, die eigentlich nicht als Babysitter einspringen sollten, aber trotzdem oft zu Hilfe gerufen werden, wenn Eltern, und vor allem die Mütter, sich nicht anders zu helfen wissen: weil die Wohnung zu klein ist, um dort im Homeoffice zu arbeiten, oder weil sie systemrelevante Berufe ausüben.

Viele sehen die Maßnahmen inzwischen als eine Art individuelle Bestrafung, um die man sich irgendwie herummogeln möchte. An dem Abend, bevor Neapel zur »roten Zone« erklärt wurde, glich die Stadt einem verrückt gewordenen Bienenstock. Die Spaziergänger drängelten sich auf den Promenaden am Meer und den schönsten Plätzen; in den Bars standen und saßen die Neapolitaner dicht gedrängt, weil man »diesen letzten Abend noch einmal genießen« und gemeinsam den »letzten Aperitif« trinken wollte, bevor man »eingesperrt« wird. Dabei war allen klar, dass man sich fahrlässig verhielt - aber diese Freiheit wollte man vor dem Lockdown einfach noch einmal auskosten.

Manchmal brechen auch aufgestaute Wut und die Verzweiflung durch: In Mailand, zum Beispiel, fing ein Mann an, einen Krankenwagen mit Fußtritten zu traktieren und den Fahrer zu beschimpfen: »Ihr fahrt permanent mit Sirenen durch die Stadt, um uns Angst zu machen.« Dabei sind in der Millionenstadt die Krankenhäuser voll und werden Kranke inzwischen sogar in Kirchen untergebracht. Fast überall fehlen Sauerstoffflaschen, um Kranke auch zu Hause versorgen zu können. Auch die Ärzte und das Pflegepersonal, die im letzten Frühjahr noch als die wirklichen Helden hingestellt und beklatscht wurden, werden jetzt immer häufiger beschimpft und sogar tätlich angegriffen, weil man sie für das mangelhafte Funktionieren des Gesundheitssystems verantwortlich macht - obwohl sie ja selbst am stärksten darunter leiden.

Das Thema Pandemie ist allgegenwärtig: Die Medien berichten kaum über etwas anderes, die Politik beschäftigt sich praktisch nur noch damit, wobei man das Gefühl hat, dass schon alles gesagt ist. Die Regierung erklärt mal schlechter, mal besser ihre Maßnahmen und die Opposition greift die Regierung an und fordert ein größeres Mitspracherecht, um dann letztendlich doch jeglichen Dialog zu verweigern, weil es »jetzt zu spät« sei. Wirkliche und vermeintliche Experten streiten über Details, die den meisten Bürgern vollkommen unverständlich sind. Selbst den »Negationisten« fallen keine neuen Argumente mehr ein. Aber trotzdem spricht man in den Familien und auf den Straßen über kaum etwas anderes.

Einigen wird das alles zu viel. In Rom steht seit ein paar Tagen im Fenster einer vielbesuchten Kaffeebar ein großes handgeschriebenes Schild: »Es ist verboten über Corona zu sprechen! Streitet euch bitte über Filme, Fußball oder Klatschgeschichten!«

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