Geschichte ist Diebstahl

Velten Schäfer speist Borschtsch mit Alexander dem Großen

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Die größten Zusammenhänge lassen sich am besten anhand der kleinsten Beispiele studieren. Insofern sollte, wer sich für Nationalismus interessiert, sich spätestens dieser Tage in die junge Geschichte desjenigen südosteuropäischen Staates einlesen, der den Namen Nordmazedonien trägt.

Schon diese Bezeichnung ist ja ein Kompromiss aus langen Verhandlungen mit Griechenland, das ein »Mazedonien« nicht zulassen wollte: Dieser Name für den Kleinstaat hätte nach Athener Dafürhalten nicht nur die territoriale Integrität der NATO-Militärmacht mit ihren drei »mazedonischen« Provinzen bedroht, sondern auch einen Zugriff auf Alexander den Großen signalisiert, dessen antikes Weltreich bekanntlich von Mazedonien ausging.

Im Sinne eines EU-Beitritts hatte man in Skopje die Degradierung zu einem weiteren Teilmazedonien gerade geschluckt. Trotzdem droht neue Unbill: Bulgarien hat zwar keine explizit »mazedonische« Oblast, aber eine »geografische Region« dieses Namens. So besteht nun Sofia darauf, dass Nordmazedonien stets als »Republik Nordmazedonien« auftreten müsse - und überdies anerkennen, dass die nordmazedonische Sprache nur ein bulgarischer Dialekt sei. Auch dürfe der anti-osmanische Freiheitskämpfer Goze Deltschew (1872-1903) nicht als nordmazedonischer Held verehrt werden, weil er Bulgare gewesen sei.

Man darf einen Moment über den heiligen Ernst lachen, mit dem die bulgarische Außenministerin droht, wegen des »Geschichtsdiebstahls« Nordmazedoniens EU-Aufnahme auszubremsen. Doch haben solche Konflikte die Eigenheit, vordringlich bei anderen so komisch zu wirken. Um den einst erbitterten Streit, ob Karl der Große ein deutscher Kaiser oder Charlemagne ein Ahnherr Frankreichs sei, ist es auch erst in jüngerer Zeit still geworden.

Wohl ganz folgerichtig war es ein in China geborener britisch-irischer Südostasienexperte einer US-amerikanischen Universität, der in den 1980ern die seither sprichwörtliche »Erfindung der Nation« so plastisch rekonstruierte: Wo heute die Ansicht herrscht, Indonesien habe quasi schon immer existiert, war noch vor hundert Jahren selbst dieses Wort ganz unbekannt. Allerdings hielt Benedict Anderson die Nation nicht für »unechter« als andere Konstruktionen der Geschichte. Solange es Staaten gibt, brauchen sie eine sinnstiftende Erzählung. Und nachdem das 19. Jahrhundert Gott in diesem Sinne abgeschafft - und das 20. Jahrhundert das Befreiungshandeln sozial Unterdrückter als staatliche Legitimationsgeschichte erst erfunden und dann wieder verworfen hat -, bleibt nur Historie als identitätswirksamer Ewigkeitsbezug.

Sicher ist es tragikomisch, wie bemüht Nordmazedonien heute nicht zuletzt mit Alexander-Memorabilia als uralte Kulturnation zu reüssieren versucht. Die Entscheidung, bloß nicht jugoslawisch sein zu wollen, verurteilt dazu, tatsächlich in historischen Mythensystemen zu wildern, die längst von anderen beansprucht werden.

Über den erwartbaren Gegenwind hinwegtrösten kann sich Skopje derweil mit der Erkenntnis, dass es anderswo noch kleinlicher zugeht: So hat das Kiewer Kulturministerium gerade angekündigt, Borschtsch bei der UNESCO als ukrainisches Kulturerbe anerkennen lassen zu wollen. Auf dass das verlogene Gerede von der »russischen Spezialität« endlich ein Ende nehme!

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