Wie ein echtes Möbelhaus
In Neustrelitz entsteht aus wachsender Armut eine Parallelwirtschaft
»Teile und herrsche« als Politikprinzip
Heidrun Bluhm erkennt hier jenes Teile-und-herrsche-Prinzip, das die CDU seit einiger Zeit praktiziert. Man spiele Arbeitslose und Arbeitnehmer gegeneinander aus, meint die Bundestagsabgeordnete. So leiste man argumentative Schützenhilfe für sozialpolitische Kürzungen.
Die Konsequenzen sind vor Ort spürbar. »Etwa zehn Kollegen müssen zum Jahresende gehen, weil die Landeszuschüsse um 50 Prozent gekürzt werden«, beschwert sich der ALV-Vorsitzende Peter Eulitz. Die Betroffenen gehören samt und sonders der Leitungsebene an. »Sie sind schwer zu ersetzen, weil sie schon über einen längeren Zeitraum für uns arbeiten«, meint Eulitz. Unverständlich erscheint die Kürzung auch angesichts der Tatsache, dass der Landesregierung erstmals seit 1994 wieder mehr Geld zur Verfügung steht als noch im Vorjahr. Doch in Schwerin hat die Haushaltskonsolidierung Vorrang.
Allerdings sind die Probleme des Verbandes nicht nur rein finanzieller Natur. Beispielsweise plante der ALV, Kindern aus sozial benachteiligten Familien kostenfrei Nachhilfeunterricht zu erteilen und ihnen so bessere Bildungschancen zu eröffnen. Die Pläne konnten jedoch nicht in die Tat umgesetzt werden - Verwaltungsbeamte sahen darin einen unerlaubten Eingriff in den ersten Arbeitsmarkt. Dabei könnten sich Hartz IV-Fa- milien die teure Nachhilfe gar nicht leisten.
Doch trotz solcher Rückschläge hat sich der ALV zu einem wahren Dienstleistungsunternehmen für sozial Schwache entwickelt. Allein die Bandbreite an Serviceleistungen beweist, wie erfolgreich hier gearbeitet wird. So bietet man Bedürftigen preiswerte Möbel und Bekleidung an. Hilfesuchende können sich an mehrere Beratungsstellen wenden. Der ALV betreibt einen Wäschestützpunkt, einen PC- und Internettreff, zwei Jugendklubs sowie zwei Nähstuben. Insgesamt gibt es vier Zweigstellen im Landkreis Mecklenburg-Strelitz.
Deutschkurse und Stellenbörse
Die Arbeit des Verbandes ist in dieser strukturschwachen Region von enormer Bedeutung. »Seitdem man die Arbeitslosen mit Hartz IV abspeist, suchen immer mehr Bedürftige bei uns Hilfe«, hat Projektmanager Günter Pucks beobachtet. Im jüngsten Geschäftsbericht ist nachzulesen, dass man über 2200 Beratungen durchführte. Oft sind die Bezieher von Hartz IV-Leistungen behördlichen Schikanen ausgesetzt. In solchen Fällen bietet der Verband eine kostenlose Rechtshilfe.
Außerdem unterstützt man rund 1200 Migranten, zum Beispiel mit individuellen Deutschkursen. Denn, so berichten ALV-Mitarbeiter: »Viele der Migranten schämen sich für ihre mangelhaften Deutschkenntnisse, besonders die Älteren unter ihnen. Oft trauen sie sich nicht, in großen Gruppen Deutsch zu lernen.« Also bildete man kleine Lerngruppen - mit großem Erfolg.
Doch auch Menschen ohne Migrationshintergrund können sich weiterbilden. So besuchen rund 160 Jugendliche die Elektronik-Selbsthilfewerkstatt. Hier treffen sich Computerfans zum Erfahrungsaustausch, zusätzlich wurde eine Stelleninformationsbörse eingerichtet. So können sich die Jugendlichen über mögliche Berufsausbildungen und freie Arbeitsplätze informieren.
Die Internetnutzung kostet beim ALV nichts. Fast 1000 Menschen machten im letzten Jahr davon Gebrauch. »Die Besucherzahlen werden sich in diesem Jahr verdoppeln«, schätzt Peter Eulitz. Und so scheint die Situation absurd: Die Angebote des ALV werden von mehreren tausend Arbeitslosen des Landkreises in Anspruch genommen, trotzdem kürzt man dem Verein die Zuschüsse. Ohnehin sei es äußerst schwierig, längerfristig zu planen, meint Peter Eulitz. »Oft wissen wir am Jahresanfang nicht, ob uns im Herbst die notwendigen Gelder zur Verfügung stehen.« Wünschenswert wären Verträge mit längeren Laufzeiten - drei bis fünf Jahre Planungssicherheit wären optimal, meint Eulitz. Doch von so einer Regelung scheint man weit entfernt.
Wer den Verband besucht und sich im Gedränge der Besucher umschaut, hat den Eindruck, dass man sich hier den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus entzogen hat. Eine Art Schatten- oder Parallelwirtschaft hat sich entwickelt. Eine Mikroökonomie, für deren Funktionieren der geldwerte Tausch keine Voraussetzung mehr sein muss. Das Ganze funktioniert auf einem erstaunlich hohen Niveau. Besonders die Möbelbörse überrascht. Der Verkaufsraum wirkt wie »richtiges« Möbelhaus. Liebevoll dekorierte Wohnzimmerarrangements - die Bedürftigen können hier in einer würdigen Atmosphäre nach Geeignetem suchen. »Bei uns ist die Nachfrage größer als das Angebot«, erläutert Projektmanager Günter Pucks. »Die Möbel sind gebraucht und werden uns von Privatpersonen überlassen. Wir betreiben eine Werkstatt, in der die Möbel aufbereitet werden.«
Rentner als neue Zielgruppe
Doch nicht nur Schränke, Tische und Stühle werden hier angeboten. Eine Textilbörse versorgt Arbeitslose mit tragbarer Kleidung. Hier behebt eine Näherin eventuelle Schäden. So wird nur Bekleidung in gutem Zustand herausgegeben. Egal, ob Babysachen oder Herrenanzüge - das Sortiment ist umfangreich und wird in mehreren Räumen präsentiert. Wieder beschleicht den Besucher das Gefühl, in einem richtigen Kaufhaus zu sein. Wir werfen einen Blick in die hauseigene Wäscherei. »Hier waschen unsere Mitarbeiterinnen für Menschen, die dazu nicht mehr in der Lage sind - etwa Alkoholkranke. Oft ist die Wäsche so schadhaft, dass wir sie austauschen müssen, kostenlos natürlich«, erklärt der Projektmanager.
Eines fällt dem Besucher sofort ins Auge: Ein Großteil der Mitarbeiterinnen und der Kunden ist offensichtlich älter als 50 Jahre. Es sind Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben.
Indem der Arbeitslosenverband Güter anbietet, die für viele sonst unerschwinglich wären, hilft er, die Folgen der sozialen Verwerfungen zu lindern. Zumal viele Kunden auch nach dem Erreichen des Rentenalters auf die Leistungen des ALV angewiesen sein werden. Denn die Altersarmut greift um sich, besonders im Osten. Langzeitarbeitslose erwerben kaum noch so genannte Rentenanwartschaften. Seit den Hartz IV-Reformen hat das Problem noch an Brisanz gewonnen. Wer 15 Jahre arbeitslos war, muss mit gewaltigen Abstrichen bei der Rente rechnen. Viele der Männer und Frauen hier sind seit mehr als zehn Jahren ohne Job.
In die Zukunft blickt man beim ALV voller Sorge. »Die Zuschüsse der öffentlichen Hand werden weiter sukzessive zurückgefahren«, ist sich Peter Eulitz sicher. Deshalb verfolgt man ehrgeizige Ziele in Neustrelitz: Bis 2013 will man unabhängig von staatlicher Förderung sein. Gewinnträchtige Bereiche wie die Tischlerei sollen zur Finanzierung des Verbands beitragen. So befindet sich der ALV in einer scheinbar paradoxen Situation: Er muss sich dem Verdrängungswettbewerb stellen, der viele seiner Klienten in die Armut stürzte, damit er sie weiterhin unterstützen kann. Kapitalistisch wirtschaften, um den Opfern des Kapitalismus zu helfen.
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