Der Goldbär mit der harten Hand

Haribo will zum 100. Geburtstag sein einziges ostdeutsches Werk schließen - die Belegschaft im sächsischen Wilkau-Haßlau wehrt sich

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Vierzehn Millionen und siebenhundertfünfzigtausend sind eine stolze Zahl. So viele Minuten hat Frank Schröder bei Haribo in Wilkau-Haßlau gearbeitet. 1992 hat er in dem Betrieb eine Lehre als Industriemechaniker begonnen. Seitdem arbeitet er als Techniker in dem Werk am Ufer der Zwickauer Mulde, wo Goldbären und Saftbären, Weingummis und Süße Mäuse hergestellt und eingetütet werden. Im Betrieb herrscht eine familiäre Atmosphäre - für ihn im Wortsinn, sagt der 44-Jährige: Seine Lebensgefährtin habe er »natürlich« bei Haribo kennen gelernt, irgendwann in diesen 14 750 000 Minuten.

Der Anlass, die Zahl auszurechnen, war ein Termin am Freitag, dem 6. November, dessen Dauer in krassem Missverhältnis zu der seines Arbeitsverhältnisses stand - der aber unter dieses einen jähen Schlussstrich zog. Ein Vertreter der Geschäftsführung, die 486 Kilometer entfernt am Stammsitz des Unternehmens in Grafschaft bei Bonn residiert, war in das westsächsische Werk gekommen und verkündete der erschütterten Belegschaft die Schließung zum Jahresende. Eine interne Wirtschaftlichkeitsprüfung habe den Ausschlag gegeben; das Werk werde »nicht mehr den Anforderungen einer wirtschaftlichen und effizienten Produktionsstruktur« gerecht. Der Termin, sagt Schröder, habe »nicht mal vier Minuten« gedauert. Die vorbereiteten Sätze, fügt seine Kollegin Ramona Koch hinzu, seien »vom Schmierzettel abgelesen« worden, ohne einem der 150 Mitarbeiter in die Augen zu schauen. »Es war eine eiskalte, skrupellose Art«, sagt die 40-Jährige, die im Gummibärchenwerk die Gelatinemasse kocht und färbt und auch schon seit 20 Jahren im Betrieb arbeitet, in dem bereits ihre Eltern tätig waren. Auch ihre Schwester ist bei Haribo - sowie ihr Lebensgefährte: »Bei uns im Werk gibt es viele Familien.«

Haribo gibt sich generell gern als Familienunternehmen. Das Namenskürzel steht für Hans Riegel, Bonn: den Firmengründer und den Ort, an dem er am 13. Dezember 1920 in einem Hinterhof Bonbons herzustellen begann. Zehn Jahre später hatte das Unternehmen schon 400 Mitarbeiter und einen prägnanten Werbeslogan: »Haribo macht Kinder froh«. Später wurde er ergänzt um die Behauptung »... und Erwachsene ebenso«. Derzeit wird das 100-jährige Jubiläum gefeiert; mit einer »Jahrhundert-Mix« genannten Tüte voller Weichgummi- und Lakritzklassiker, für die auch im Werksverkauf in Wilkau-Haßlau Reklame gemacht wird. Sie trägt den abgewandelten Slogan: »Haribo macht alle froh - seit 100 Jahren ist das so«. Doch nicht nur Kunden sollen beglückt werden. Im Internet wirbt die Firma, die etwa 7000 Mitarbeiter hat, auch mit einem »Arbeitsumfeld zum Wohlfühlen« und einem »respektvollen und wertschätzenden« Umgang.

Das Werk in Wilkau-Haßlau, wo man diese Art »wertschätzenden« Umgang gerade zu spüren bekommt, feiert in diesem Jahr nicht 100, sondern erst »30 Jahre Haribo«. So steht es auf einem Transparent am Werksgebäude. Am 1. August 1990 wurde der Betrieb von dem westdeutschen Süßwarenriesen übernommen, mit dem man freilich bereits eine lange Verbindung unterhielt. Auch die Betriebstradition in der westsächsischen Kleinstadt ist weit länger als 30 Jahre; sie reicht ebenfalls rund 100 Jahre zurück, angefangen mit einer in den 1920er Jahren gegründeten Konditorei und Pfefferküchlerei. In der DDR wurde der Betrieb verstaatlicht, später dem Süßwarenkombinat Halle zugeordnet. Seit den 1960er Jahren ging die Hälfte der Produktion in den Westen, wo sie auch unter der Marke Haribo verkauft wurde. Es schien naheliegend, dass das damals noch in Bonn ansässige Unternehmen 1990 bei der Treuhand vorstellig wurde und das Werk in Sachsen übernahm. Heute ist dies die kleinste der fünf deutschen Filialen von Haribo - aber dessen einzige ostdeutsche Niederlassung.

Dass ausgerechnet die jetzt abgewickelt werden soll, bringt Politiker wie Martin Dulig besonders in Rage. Der SPD-Mann ist Ostbeauftragter seiner Partei und Wirtschaftsminister in Sachsen, und er sagt: »Ich sehe die Gefahr, dass sich die Neunzigerjahre wiederholen«; eine Zeit also, in der reihenweise Betriebe im Osten von ihren westdeutschen Eigentümern abgewickelt wurden. Ist es nun wieder soweit? Kürzlich hat der MAN-Konzern mitgeteilt, dass er sein Werk in Plauen dichtmachen will. Nun zieht sich Haribo zurück - und revidiere damit leider die »starke und von Herzen kommende Entscheidung Ihrer Familie«, sich nach der deutschen Vereinigung in Ostdeutschland zu engagieren, wie Sachsens CDU-Regierungschef Michael Kretschmer dieser Tage in einer Art Bittbrief an die Eigentümerfamilie schrieb.

In welchem Maße sich Haribo aus idealistischen Motiven im Osten engagierte - dazu hat Sabine Zimmermann ihre eigene Meinung. Die Zwickauer DGB-Chefin und Bundestagsabgeordnete der Linken hat recherchiert, dass Haribo im Jahr 2017 in Wilkau-Haßlau 1,8 Millionen Euro Gewinn erwirtschaftet hat, im Jahr darauf sogar 2,6 Millionen. Ein Gewinnabführungsvertrag regelt indes, dass das Geld in der Konzernzentrale landet. In Grafschaft wurde 2018 ein hochmodernes neues Werk mit Produktionsanlagen auf drei Etagen und Logistikzentrum eröffnet. In Wilkau-Haßlau hat es nur zum Bau eines Parkplatzes und der Renovierung des Werksverkaufs gereicht. Die jüngste im Bundesanzeiger veröffentlichte Bilanz von Haribo sah das sächsische Werk mit einem Umsatz von 25,4 Millionen Euro und einer »voll ausgelasteten Produktion« dennoch »für die Zukunft gerüstet«. Nun freilich wird auf »unverhältnismäßig hohe« Investitionen verwiesen, die nötig seien. Zimmermann hält das für vorgeschoben: »Man hat Gewinne abgeschöpft, Fördermittel abkassiert, die Mitarbeiter ausgepresst« und ziehe nun die Reißleine: »So ein Vorgehen ist schäbig.«

Neu ist es freilich nicht. Bis 2018 war nicht Wilkau-Haßlau das kleinste Werk von Haribo, sondern das im 250 Kilometer entfernten Mainbernheim: die Firma »Bären-Schmidt«, 150 Jahre Tradition, seit 1971 bei Haribo. Zu guten Zeiten gab es 350, zuletzt noch 93 Mitarbeiter, bevor es plötzlich hieß, die Infrastruktur sei nicht mehr auf dem nötigen Stand, ein Neubau die einzige Lösung, aber unwirtschaftlich. Auf Widerspruch reagierte der Goldbären-Hersteller mit harter Hand. Die Geschäftsführung bot Jobs in anderen, weit entfernten Werken an, stimmte einem Sozialplan zu, kannte ansonsten jedoch keine Gnade. Die 2200-Einwohner-Stadt im fränkischen Kreis Kitzungen verlor ihren bis dahin größten Arbeitgeber und 30 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen.

Stefan Feustel ist Bürgermeister von Wilkau-Haßlau. Er kennt das Beispiel Mainbernheim - und muss fürchten, dass sich die Geschichte in seiner Stadt wiederholt. Wieder wird ein Standort aus heiterem Himmel als marode deklariert; wieder gibt es von der Geschäftsführung als höchstes Zugeständnis Jobangebote an anderen Standorten, die freilich rund 500 Kilometer entfernt und damit »unzumutbar« seien; wieder droht einer Kommune ein Einbruch der Gewerbesteuer von einem Drittel. Feustel, der Haribo seit vielen Jahren Grundstücke für eine Erweiterung angeboten und nun den Eindruck hat, dass der in Rheinland-Pfalz erfolgte Neubau den Standort in seiner Stadt überflüssig macht, hat für ein solches Geschäftsgebaren kein Verständnis - auch als CDU-Politiker nicht. Als solcher müsse er doch die Mechanismen der sozialen Markwirtschaft kennen, habe ihm kürzlich ein Journalist vorgehalten. Was bei Haribo in Wilkau-Haßlau geschehe, sei aber keine soziale, sondern eine »asoziale Marktwirtschaft«, erwiderte der Rathauschef: »Ich erwarte von so einem Unternehmen, dass es auch eine politische Verantwortung wahrnimmt.« Seine Amtskollegin Dorothea Obst aus dem benachbarten Kirchberg schlägt in eine ähnliche Kerbe. Sie hat in einer Eigendarstellung von Haribo gelesen, man bekenne sich als Unternehmen zu »klassischen Werten«. Welche, fragt die Rathauschefin angesichts des Vorgehens am westsächsischen Standort mit hörbarem Sarkasmus, »sollen das denn sein? Der Profit?«

Unmut und Zorn über das harte Vorgehen von Haribo sind deutlich vernehmbar: in der Belegschaft, in den Rathäusern, in der Landespolitik. Sie alle blasen nun zum Widerstand. Zunächst wurde ein Aktionsbündnis gegründet; am Samstag gab es in Zwickau eine von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierte große Kundgebung mit einigen hundert Teilnehmern. Viele hielten Plakate mit roten Herzen, einem Goldbären und der Forderung: »Haribo muss im Osten bleiben.« Der Initiator einer Online-Petition übergab dem Betriebsrat einen Stapel mit 14 359 Unterschriften - mit kämpferischen Grüßen an die Haribo-Chefs: »Wenn sie mehr wollen, sollen sie sich melden.« Mitarbeiter hielten Plakate in die Höhe. Eines buchstabiert den Firmennamen Haribo neu: nicht mehr als »Hans Riegel, Bonn«, sondern als »H wie Heuchlerei, A wie abserviert, R wie rabiat, I wie interessenlos, B wie borniert, O wie ohne Worte«.

Derlei wütende Äußerungen werden nicht zum Sinneswandel im Management führen - vielleicht aber zu öffentlicher Aufmerksamkeit für das unsoziale Vorgehen des angeblichen Familienunternehmens just im 100. Jubiläumsjahr und kurz vor Weihnachten. Die Landesregierung setzt auf Angebote für Investitionsbeihilfen und Appelle an die soziale Verantwortung der Eigentümerfamilie; die Resonanz ist dem Vernehmen nach mehr als mäßig. Also müsse mit härtere Bandagen gekämpft werden, sagt Jürgen Hinzer, ein altgedienter Gewerkschafter aus Hessen. Er betont auf der Kundgebung, bei Haribo in Wilkau-Haßlau gehe es »nicht um einen Konflikt zwischen Ost und West, sondern zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Beschäftigten«. Der Gewerkschafter hat eine Grußadresse mitgebracht - von den 250 Mitarbeitern der Coca-Cola-Niederlassung in Liederbach in Hessen, die im November geschlossen werden soll. Ihre Belegschaft solidarisiert sich mit der in Wilkau-Haßlau. Und außerdem zitiert Hinzer ein abgewandeltes Weihnachtsgedicht. »Stille Nacht, streikende Nacht«, heißt es in der letzten Strophe: »Wir pfeifen auf die Gnade der Herrn / und übernehmen den Haribo-Konzern«.

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