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Arme Opfer des DDR-Systems
Sozialstudie belegt auffällig niedrige Einkommen der Betroffenen
Sie können schlecht schlafen. Es fällt ihnen schwer, zu jemandem Vertrauen zu fassen. Sie haben ein geringes Einkommen. Es lässt sie auch 30 Jahre nach den Wende nicht los, dass ihnen in der sowjetischen Besatzungszone oder in der DDR Unrecht wiederfuhr. Das sind Ergebnisse einer Sozialstudie zur Lebenslage von Opfern der damaligen politischen Verhältnisse, die in Brandenburg leben. »Ich hatte sehr lange Alpträume, die eigentlich erst aufgehört haben, als ich vor drei Jahren die Arbeit in Hohenschönhausen begann«, sagt einer von ihnen. Geholfen habe das in der Berliner Stasi-Gedenkstätte entwickelte Gefühl: »Ich habe den Schlüssel und nicht die Typen in Uniform.«
Erstellt wurde die Studie zwischen März 2019 und September 2020 vom Berliner Institut für Sozialforschung. Den Auftrag hatte die Stasi-Landesbeauftragte Maria Nooke erteilt. Er geht zurück auf einen Beschluss des Landtags von 2016. Am Dienstag übergab Nooke das 336 Seiten umfassende Papier an Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD).
»Ich habe mir von der erhofften Wiedervereinigung mehr versprochen, möchte das DDR-Regime aber nie wieder haben. Wir haben die Freiheit erhalten, aber viel von der Gerechtigkeit verloren.«
»Seit fast 30 Jahren habe ich Schlafprobleme. Wahrscheinlich ist es immer noch die Angst, dass die Zelle aufgeht und was passiert ...«
»Ich bin misstrauisch und scheu, aber es kommt sicher nicht alles vom Unrecht. Aber man ist schon stark beeinflusst, und so habe ich nie eine Frau gefunden. Wenn ich Ingenieur hätte werden können, wäre mein Berufsleben sicher anders verlaufen.«
»Man schwankt ständig hin und her zwischen Aufarbeitungswillen und Vergessen-Wollen.«
»Ich schlage vor, den Tätern ihre Rente in DDR-Mark auszuzahlen, wenn sie schon nicht juristisch zur Rechenschaft gezogen werden können.« af
533 Personen füllten für die Studie einen langen Fragebogen aus. Sie sind zwischen 19 und 91 Jahre alt. Dass auch junge Leute dabei waren, die erst nach der Wende geboren wurden, hat damit zu tun, dass die Wissenschaftler auch die Lage der Angehörigen erforschten, darunter Kinder von Opfern. Welche Langzeitfolgen hatte es für diese, dass die Eltern sich mit ihren Erlebnissen quälen? Als heute noch belastend für die Älteren unter den Kindern wird die Situation beschrieben, einst mit ansehen zu müssen, wie ihr Vater oder ihre Mutter verhaftet wurden.
Es gab bereits 2008 eine ähnliche Sozialstudie für Thüringen, aber nicht in dieser Form und in diesem Umfang. Da sei die neue Studie die erste dieser Art, heißt es. Was die Leiden der Opfer betrifft, gibt es immer Ausnahmen. Einige empfinden ihre Erinnerungen nicht als belastend, einer sagt sogar, die Haftzeit habe ihn reifen lassen. In der einen Familie zerstritten sich Vater und Sohn, weil der Vater in der DDR berufliche Schwierigkeiten bekam, nachdem der Sohn in den Westen flüchtete. In einer anderen Familie stärkte die Verfolgung den Zusammenhalt durch das Gefühl, gemeinsam etwas durchgestanden zu haben. Sieben Prozent der befragten Opfer verfügen heute über ein monatliches Einkommen oberhalb von 3500 Euro, doch 21 Prozent liegen mit weniger als 1000 Euro unterhalb der Armutsschwelle. Die Grenze wird bei 1135 Euro gezogen. Weitere 19 Prozent liegen mit 1000 bis 1500 Euro an der Armutsschwelle oder nur knapp darüber. Während also 46 Prozent der Opfer in einer derart prekären Lage leben, geht das zum Vergleich lediglich 21 Prozent von Brandenburgs Gesamtbevölkerung so.
Für die herrschende Armut gibt es verschiedene Gründe. Sie wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass etlichen Opfern ein Studium oder eine bestimmte Berufsausbildung, die ein höheres Einkommen versprochen hätte, aus politischen Gründen verwehrt worden sei. Andererseits deckt sich das Bildungsniveau mit dem der gesamten Bevölkerung. Einige Opfer haben durchaus studiert und sogar promoviert, ein Teil von ihnen holte höhere Abschlüsse allerdings erst nach der Wende nach.
Die Studie verschweigt nicht, dass die Opfer zusätzlich vielleicht auch deshalb in prekären Verhältnissen leben, weil sie schlicht und einfach Ostdeutsche sind und darum nach der Wende arbeitslos waren oder wenig Lohn erhielten - also gewissermaßen auch Opfer der bundesrepublikanischen Zustände geworden sind.
Wen definiert die Studie als Opfer? Es kann der Kriegsverbrecher sein, der im sowjetischen Speziallager interniert wurde. Es kann der Gutsbesitzer sein, der enteignet, der Fabrikant, dessen Betrieb verstaatlicht wurde. Es kann das Kind sein, dass im Heim lebte, aber auch der zwangsweise aus dem Grenzgebiet Ausgesiedelte und der ungerechtfertigt in die Psychiatrie Eingewiesene. Es kann auch jemand sein, der 1968 Losungen pro Prager Frühling verbreitete. Einer der Befragten erzählt von genau diesem Schicksal. Er saß deswegen drei Monate in Haft. Die DDR-Opfer wehrten sich gegen Bevormundung, sagte die Stasi-Landesbeauftragte Nooke am Dienstag bei der Übergabe der Studie. »Der Preis dafür war hoch.«
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Die Studie soll helfen, »die Aufarbeitungsbemühungen im Land Brandenburg zu unterstützen«, so Projektleiterin Eva Schulze. Empfohlen wird etwa, dass Gutachter zu Entschädigungsforderungen sich mit der besonderen Materie besser auskennen.
»Die Untersuchung bietet eine solide Datengrundlage für künftige politische Entscheidungen«, bedankte sich Parlamentspräsidentin Liedtke. Es handele sich um einen wichtigen Schritt in einem langen Prozess der Aufarbeitung, der noch lange nicht abgeschlossen sei.
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