Durchschnittliche Männer überall

IN SCHLECHTER GESELLSCHAFT: Die Dieter Nuhrs dieser Welt profitieren von den Strukturen, unter denen andere leiden, meint Sibel Schick.

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer steht in unserer Gesellschaft ganz oben auf der Gewaltpyramide? Cisgeschlechtliche, weiße, akademisierte, heterosexuelle Männer, die christlich sozialisiert wurden und weder behindert noch chronisch krank sind. Diese können sich alles erlauben und werden gesellschaftlich toleriert, genießen also eine Art Immunität. Sobald die Toleranz knackt, schlüpfen sie in die Opferrolle – so wie zuletzt Dieter Nuhr.

Diesen selbstbewussten, dennoch durchschnittlichen und langweiligen cis Männern kann man überall begegnen. Sie sind nicht nur hilflos selbstverliebt, sondern glauben, dass auch die ganze Welt verliebt in sie ist. Sie profitieren von den Strukturen, unter denen andere leiden, weshalb sie oft auch konservativ sind, damit alles so bleibt, wie es ist. Sie müssen keine Risiken eingehen, weil ihnen bereits alle Türen offenstehen. Sie müssen sich kaum anstrengen, weil ihre Fehler kollektiv verziehen werden. Wenn sie hinfallen, werden sie sanft aufgefangen.

Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«.

Manchmal gehen sie zu weit, werden kritisiert und damit vor eine wichtige Entscheidung gestellt: Setzen sie sich mit Kritik auseinander oder spinnen sie eine Verschwörung herbei? Für letzteres entschied sich vor Kurzem Dieter Nuhr: Er sprach von Menschen, die ihm die künstlerische Existenz vernichten wollen. Wer trotz jeder Grenzüberschreitung eine Immunität genießt, kann sich wohl kaum vorstellen, dass er falsch liegen und zu Recht kritisiert werden kann.

In seiner ARD-Sendung blendete Nuhr kürzlich das Cover des Buchs »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten« der deutschen Journalistin und Autorin Alice Hasters ein und sagte fälschlicherweise, es handele sich um eine US-amerikanische Autorin, deren Buch in den USA ein Riesenrenner sei. Im Nuhr-Universum gibt es offenbar keine Schwarzen Deutschen. Deutsch können nur jene sein, die Müller und Schmidt heißen. Eine schnelle Google-Suche hätte sich gelohnt.

Nach seiner Falschbehauptung setzte Nuhr noch einen drauf und diffamierte Hasters als »Pseudointellektuelle« und »arrogante Linke«, die für den Erfolg des Rassisten Donald Trump verantwortlich sei. Das begründete er damit, dass Hasters' Buchtitel »polarisierend reißerisch« sei »zum Zwecke der Verkaufsförderung«. Im Nuhr-Universum ist die Welt also verkehrtherum und weiße Gesellschaften sind frei von Rassismus, bis sich Schwarze Menschen wehren. So werden also aus unschuldigen weißen Menschen große Rassisten produziert. Das heißt, es gibt gar keinen Rassismus und wenn es ihn gibt, dann sind Betroffene selbst schuld daran.

Zum Zwecke der Verkaufsförderung reißerisch zu polarisieren dürfen anscheinend nur weiße Menschen wie Lisa Eckhart und Nuhr selbst. Immerhin verteidigt er seine reißerisch polarisierenden Formulierungen, anstatt aufrichtig um Entschuldigung zu bitten, also müssen für ihn andere Maßstäbe gelten. Auch Eckhart, die in ihrem Bühnenprogramm Rassismen und Antisemitismus reproduziert, verteidigt Nuhr. Im Nuhr-Universum darf also nur in eine Richtung reißerisch polarisiert und damit Geld gemacht werden: von oben nach unten, aber niemals umgekehrt.

Eine ehrliche Entschuldigung und Auseinandersetzung wäre angebracht. Allerdings ging Nuhr in seiner Entschuldigung nur auf die Kritik über die Falschbehauptung, Hasters sei US-Amerikanerin, ein, obwohl das das kleinste Problem ist. Das kann er sich leisten, weil, wie gesagt: Immunität. Die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger verteidigte Nuhr nämlich. Auch sie ging nur auf die Kritik über die Falschbehauptung ein. Die Grenzen dessen, wie weit diese Männer gehen dürfen, bestimmen sie also nicht nur selbst. Sie werden auch von anderen darin bestärkt, sich völlig daneben und diskriminierend zu verhalten. So haben sie gar keinen Grund, sich zu ändern - und die Strukturen bleiben unberührt.

Wenn sich Dieter Nuhr nach seinen eigenen Maßstäben beurteilen würde, hätte er »einfach mal die Fresse gehalten«. Aber im Universum der cis Männer wie Dieter Nuhr herrscht 24/7 zweierlei Maß: Sie dürfen über Themen sprechen, mit denen sie sich nie im Leben beschäftigt haben, und sogar andere belehren. Das unterirdische Niveau von Ignoranz und Arroganz, das sie sich erlauben, würden sie bei anderen niemals tolerieren. So wird die Schnittstelle von Rassismus und Sexismus klar sichtbar: jene Strukturen, von denen die Dieter Nuhrs dieser Welt profitieren, während andere sterben.

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