Linke Einheit in São Paulo

Der Sozialist Guilherme Boulos will Bürgermeister der brasilianischen Megastadt werden. Hinter ihm hat sich ein breites Bündnis versammelt.

  • Peter Steiniger (Text) und José Eduardo Bernardes (Fotos)
  • Lesedauer: 6 Min.

Bereits der Einzug in die Stichwahl vor zwei Wochen war ein bemerkenswerter Erfolg für Guilherme Boulos. Jede fünfte Stimme bei der Bürgermeisterwahl in São Paulo entfiel auf den Kandidaten der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) und seine Vizekandidatin, die Kongressabgeordnete Luiza Erundina.

Für Boulos ist die Kandidatur mit echter Chance auf ein öffentliches Amt Neuland. Zwar stand er 2018 - mit der Vertreterin der Indigenen Sônia Guajajara als Vize - auf dem Stimmzettel zur Präsidentschaftswahl. Aussichten auf Erfolg hatte er aber nicht und holte schließlich gerade einmal 0,6 Prozent der Stimmen. Unterstützt wurde der PSOL-Mann damals von sozialen Initiativen und der kommunistischen PCB. Für die Stichwahl 2018 riefen Boulos und Guajajara zur Stimmabgabe für den Kandidaten der Arbeiterpartei PT Fernando Haddad auf. Präsident wurde der Ultrarechte Jair Bolsonaro.

Antikapitalistische Alternative

Die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) bildete sich 2004/05 als Abspaltung vom linken Flügel der ideologisch breit gefächerten Arbeiterpartei (PT). Zu den Initiatoren gehörten vier Parlamentarier, die von der PT-Fraktion im Kongress zuvor ausgeschlossen worden waren, weil sie eine Rentenreform der seit 2003 von ihrer Partei geführten Regierung nicht mittragen wollten. Die PSOL wurde zu einem Sammelpunkt für Intellektuelle und Aktivisten, die den Sozialismus als Fernziel linker Politik nicht aufzugeben bereit sind. An der Lula-Politik kritisierten sie vor allem die Illusion der Klassenversöhnung, die unheiligen Allianzen, unsoziale Prestigeobjekte, Exportorientierung sowie den Verlust von Glaubwürdigkeit und Basisnähe durch sozialdemokratischen Machtopportunismus. Zugleich kämpfte die PSOL gegen den rechten Putschismus und für die Freiheit von Lula nach dessen politisch motivierter Inhaftierung 2018. Die Partei steht in enger Verbindung zu sozialen Bewegungen und zeichnet sich durch einen basisdemokratischen Politikstil aus. pst

Diesen Sonntag entscheidet sich, ob der linke Außenseiter Boulos Bruno Covas von den konservativen Sozialdemokraten (PSDB) als Bürgermeister ablöst. Zwar liegt Covas in den Umfragen vorn, doch der PSOL-Kandidat und Anführer der Bewegung der obdachlosen Arbeiter (MTST) hat aufgeholt. Boulos punktet bei den öffentlich Beschäftigten, bei Arbeitslosen, den Jüngeren und afrobrasilianischen Wählern. Vorn liegt er auch bei denen mit höherer Bildung, anders als bei Besserverdienern, Rentnern und Hausfrauen.

In anderen Zeiten wäre der hemdsärmelige Intellektuelle Boulos ein »Kandidat zum Anfassen«. Mit seinem glaubwürdigen Eintreten für Wohnraum für alle, für den öffentlichen Dienst, für bezahlbaren Nahverkehr ist der Mann, der »aus São Paulo eine antirassistische Stadt machen« will, für viele ein Hoffnungsträger. Wie eine jüngere Ausgabe von Lula da Silva kommt er rüber, und sein Draht zum Ex-Präsidenten und Übervater der Linken ist gut. Nicht nur die Arbeiterpartei, deren Gründungsmitglied Lula war und der es traditionell nicht leichtfällt, die Führungsrolle abzugeben, hat sich jetzt offiziell hinter Boulos gestellt, sondern auch vier weitere Linksparteien. Einigkeit statt Zersplitterung: Das ist, unabhängig vom Wahlausgang, bereits ein positives Signal für Brasilien, das sich im Griff der extremen Rechten befindet.

Wer in São Paulo, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, politisch das Sagen hat, ist von nationaler Tragweite. Das liegt schon am Gewicht des wirtschaftlichen und kulturellen Zentrums, das einst als Handelsplatz für Kaffee groß geworden war. Der bedeutendste Ballungsraum Südamerikas mit etwa 21 Millionen Einwohnern ist der wichtigste Industriestandort für brasilianische wie multinationale Konzerne. Auch mehr als 1000 deutsche Unternehmen, mehr als an jedem anderen Ort im Ausland, sind in der drittgrößten Stadt der Welt vertreten. Der dem Industriegürtel der Stadt vorgelagerte Seehafen von Santos macht São Paulo zur Drehscheibe für den Im- und Export.

Zugleich ist die Stadt ein Ort extremer Gegensätze von Arm und Reich und Schauplatz vielfältiger sozialer Kämpfe. Die der Industrialisierung folgende Expansion schuf an ihrer Peripherie irreguläre Siedlungen und Armutsquartiere. Jeder vierte Einwohner in der Region Groß-São-Paulo lebt in einer solchen Favela, fernab von Kultur- und Kommerztempeln. Die Stadtentwicklung orientierte sich lange allein an den Interessen der Besitzenden. Der Verkehrskollaps ist Alltag, Luft und Wasser sind verpestet. Hunderttausende haben keine oder keine richtige Bleibe, während gleichzeitig nicht wenige Häuser ungenutzt leer stehen und verfallen.

Seit ihrer Gründung 1997 ist die Obdachlosenorganisation MTST als größte städtische Massenbewegung auch in São Paulo gegen diesen Missstand immer wieder mit direkten Aktionen präsent. Hervorgegangen ist die MTST aus der militanten Landlosenbewegung MST, sie ist praktisch deren urbaner Arm. Die Spezialität der von Guilherme Boulos angeführten Aktivisten sind straff organisierte Besetzungen leer stehender Immobilien und Protestcamps mit Tausenden Teilnehmern auf Leerstandsflächen. MTST und andere linke Bewegungen Brasiliens fordern die Verwirklichung der in der brasilianischen Verfassung verankerten sozialen Grundrechte, auch mittels Enteignung von Leerstand zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums.

Über São Paulo hinaus hat die diesjährige landesweite Kommunalwahl in den 5568 Gemeinden unterschiedlichster Größe Brasiliens Linkskräften einige Erfolge beschert. Zwar gingen die meisten Mandate an traditionell-konservative Parteien, doch insbesondere in den Großstädten konnten Arbeiterpartei, PSOL und ihre Verbündeten hinzugewinnen. Und die meisten der vom ultrarechten Bolsonaro im Wahlkampf unterstützten Kandidaten fielen durch. In Rio de Janeiro, Hochburg der Evangelikalen und der kriminellen »Milizen«, die in der lokalen Politik mitmischen und Verbindungen zur Präsidentenfamilie haben, steht der selbst ernannte Bischof und Stadtpräfekt Marcelo Crivella - ein Bolsonaro-Verbündeter - zwar in der zweiten Runde, wird aber gegen Eduardo Paes von den konservativen Demokraten kein Licht sehen.

Außer in São Paulo haben linke Kandidaten an diesem Sonntag noch in einem Dutzend weiterer Großstädte die Chance, an die Spitze der Verwaltung gewählt zu werden. Darunter auch die Kandidatin der betont patriotischen Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB) Manuela d’Ávila, die in Porto Alegre, der Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, gegen den Konservativen Sebastião Melo antritt.

Bei den vorherigen Wahlen zu den Gemeindevertretungen, im Oktober vor vier Jahren, hatte insbesondere die Arbeiterpartei noch ein Debakel erlebt. In 375 Rathäusern musste sie die Macht abgeben. Zuvor hatten »Petistas« in 638 Kommunen das Sagen gehabt. Auch São Paulo gehörte zu den Städten, in denen die PT eine herbe Niederlage einstecken musste. Amtsinhaber Fernando Haddad, der eine fortschrittliche ökologische Stadtentwicklung betrieben hatte, landete abgeschlagen bei nur 16 Prozent. Der TV-Moderator und Multimillionär João Doria eroberte den Rathaussessel mit einer absoluten Mehrheit bereits im ersten Wahlgang.

Nur einen Monat nachdem die politisch motivierte Amtsenthebung der linken Präsidentin Dilma Rousseff durch den Kongress amtlich geworden war, musste die PT auch an den Urnen einen Tiefschlag hinnehmen. Rousseffs treuloser Vize Michel Temer vom rechtsopportunistischen MDB durfte sich nun Staatschef nennen. Den Parlamentsputsch, in den auch Spitzen von Justiz und Militär eingebunden waren, hatte eine über Jahre betriebene aggressive Kampagne des von wenigen reichen Familien kontrollierten Medien-Oligopols vorbereitet. Die Linken wurden darin als Kräfte, die das Land in den Ruin führen, gebrandmarkt. Korruptionsskandale brachten die politische Klasse insgesamt in weiten Teilen der Bevölkerung in Verruf.

Tatsächlich war Rousseffs knapper Sieg 2014 gegen den Konservativen Aécio Neves mit dem Übergreifen der Weltmarktkrise auf Brasilien zusammengefallen. Das von der PT verfolgte Entwicklungsmodell von Rohstoff-Extraktivismus und Sozialtransfers, ohne Umverteilung des Reichtums und Umbau der Gesellschaft, wurde zur Sackgasse. Die mit US-Hilfe betriebene Sabotage der PT-Regierung und die juristische Verfolgung ihrer Köpfe ließen Nationalismus und antikommunistische Hysterie anschwellen. Fruchtbarer Boden für den Faschisten Bolsonaro.

Der in konservativen Kreisen als radikal verschriene Boulos duelliert sich in diesem Wahlkampf nicht nur mit Bürgermeister Covas, sondern indirekt auch mit dessen Mentor João Doria, der bereits im April 2018 als Stadtpräfekt wieder zurückgetreten war, um die Leiter eine Stufe höher zu klettern. Im Oktober desselben Jahres wurde Doria zum Gouverneur des Bundesstaates São Paulo gewählt. Der MTST-Führer und der großbürgerliche Law-and-Order-Politiker haben schon etliche Sträuße miteinander ausgefochten. Doria hat sich von einem Bolsonaro-Anhänger zu dessen Gegenspieler gewandelt, der vom Präsidenten hasserfüllt bekämpft wird. Der Gouverneur profilierte sich mit einer Corona-Eindämmungspolitik und ist Anwärter auf eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2022.

Auf der Linken ist Boulos nicht der wahrscheinlichste Aspirant. Eine wichtige Rolle wird er aber gewiss spielen. Am Dienstag vor der Wahl entschied der Kandidat, seinen Straßenwahlkampf auszusetzen, um das Ergebnis eines Coronatests abzuwarten. Eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem die Vorsitzende der PSOL-Fraktion im Parlament, Sâmia Bomfim, positiv getestet worden war. Bomfim hatte an der Veranstaltung mitgewirkt, auf der fünf Mitte-links-Parteien ihre Unterstützung für den Sozialisten erklärten. Diese Volksfront gegen den Faschismus könnte eine Blaupause für kommende Kämpfe sein.

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