Stätten der Toleranz und des wahren Menschentums

Horst Groschopp erinnert an die ersten weltlichen Schulen in Deutschland vor 100 Jahren

  • Franziska Klein
  • Lesedauer: 3 Min.

Man erinnere sich des heftigen Disputs vor Jahren um das Kruzifix in deutschen Schulen, an die Kopftuchdebatte, die Schülerinnen wie auch Lehrerinnen betraf, sowie die Abwägung von Religionsunterricht und einem Fach in Ethik. Die Bundesrepublik, obwohl längst ein Einwanderungsland und multikulturell, hinkt gesellschaftlich mindestens 100 Jahre der Aufklärung hinterher. Peinlich. Nachdem die Große Französischen Revolution von 1789 erstmals die Trennung von Staat und Kirche dekretierte, wurde dies mit der Novemberrevolution 1918 auch hierzulande gefordert. Und hat sich nicht gänzlich durchgesetzt, bis auf die 40 Jahre DDR. Noch immer ist diese Selbstverständlichkeit einer aufgeklärten, rational denkenden modernen Welt für Deutschland nicht selbstverständlich. Was unterscheidet die BRD ergo von islamischen Staaten?

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Horst Groschopp: Weltliche Schule und Lebenskunde.
Dokumente und Texte zur Hundertjahrfeier ihrer praktischen Innovation 1920.
Alibri
286 S., br., 28 €.

Horst Groschopp, 1949 in Zwickau geboren, gelernter Dreher und nach dem Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, ABF in Freiberg, Student und schließlich Dozent der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat ein leidenschaftliches, faktenreiches und überzeugendes Plädoyer für die weltliche Schule verfasst. Historische Reflexionen werden mit aktuellen Anforderungen und Notwendigkeiten verzahnt. Er erinnert daran, dass unter der Herrschaft des Direktoriums in Frankreich (1795/99) Bildungspolitiker erstmals den Versuch wagten, der heranwachsenden Jugend eine religionsfreie, dem zeitgenössischen Stand der Wissenschaft entsprechende Morallehre anzubieten. «Seitdem ist das Ansinnen in der Welt.Von da an datiert der Streit, ob der weltliche Staat Religionsunterricht an seine Schulen einrichten, bezahlen, fördern, dulden oder abschaffen solle.» In Deutschland begann die Diskussion darüber erst so richtig in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die ersten radikalen Ansätze in diese Richtung gab es allerdings schon, wenn auch nur kurzzeitig gültigen demokratischen Verfassung des Herzogtums Anhalt-Dessau vom 29. Oktober 1848. In diesem Revolutionsgeborenen Dokument hie es: «Das gesamte Schulwesen ist der Beaufsichtigung der Geistlichkeit enthoben ...»

Der protestantische Theologe Wilhelm Fricke unterbreitete in den 1870er Jahren eine Sittenlehre für konfessionelle Schule. Er beklagte: «Das massenhafte, gedankenlose Auswendiglernen ist unter allen pädagogischen Sünden ... die schwärzeste. Wer die Kinder gegen diese erbarmungslose Grausamkeit vertheidigt hat, verdient unter die größten Wohltäter gerechnet zu werden.»

In der jungen Weimarer Republik boomten «Freie Schulen», die sich als frei im Denken und frei von religiösen Dogmen verstanden. Religion sollte Privatsache sein. Die Eröffnung der ersten «weltlichen Schule» in Deutschland am 15. Mai 1920 in Berlin-Adlershof war verbunden mit der Innovation eines neuen Schulfaches namens «Lebenskunde. Zeitgleich entstanden, so Groschopp, weitere weltliche Schulen, allein in Berlin in jenem Jahr sieben. Adlershof ward aber die erste mit ministerialem Segen. Im Aufruf des Bundes der freien Schulgesellschaften Deutschlands, der für Oktober 1920 zu seiner Gründung eine große Elternversammlung einlud, wurde verlangt, dass an Bildungsstätten »alle konfessionellen Bekenntnisse und Weltanschauungsrichtungen außer Acht gelassen werden«. Gefordert wurde die »Schule der Neutralität und der Toleranz, der Gleichberechtigung und des wahren Menschentums«. Das Flugblatt schloss mit dem Appell: »Bekundet Euren geschlossenen Willen als Erziehungsberechtigte, Eure Kinder in eine solche Schule zu schicken.« Das Experiment, für das sich nicht nur der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster und der Soziologe Ferdinand Tönnies, sondern schon August Bebel und Clara Zetkin stark machten, währte nur knapp zwölf Jahre, ward mit dem Machtantritt der Nazis abgewürgt, bleibt aber, so Groschopp, ein Höhe- und Mahnpunkt in der Säkularisierungsgeschichte des deutschen Bildungswesens.

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