War’s das dann oder gibt’s noch was?

Michael Geiger denkt über eine artgerechte Gesellschaft jenseits des Kapitalismus nach

  • Herbert Grießig
  • Lesedauer: 4 Min.

Marx, Engels, Lenin, Mao Tse-tung programmatisierten sie: eine sozialistische Menschenordnung. Und Michael Geiger, der in der DDR geboren ist, in Leipzig und Berlin studiert und dort als Professor für Internationales Management gelehrt hat, fasst dieses heiße Eisen an, an das sich nach dem Scheitern des »real existierenden Sozialismus« in Europa nur wenige noch heranwagten. Auf den ersten Blick scheint er übermütig, wenn er das komplette Cluster des Themas aufgreift, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft, Anthropologie, Soziologie und Psychologie einbezieht. Dabei rüttelt er an Paradigmen, die ihm sicher manchen Widerpart bescheren werden. Mit der Begrifflichkeit »Artgerechte Gesellschaft« - mehr als nur ein Synonym für Sozialismus - wendet er sich an alle, denen das Überleben der Art Homo sapiens Grundanliegen ihres Denken und Tuns ist.

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Michael Geiger: Artgerechte Gesellschaft. Sozialismus - Utopie - Irrtümer.
Nora-Verlag, 256 S., br., 17,50 €.

Geiger betrachtet und analysiert das Wesen Mensch, beleuchtet die Höhen und Tiefen seiner Psyche, das Gute und das Böse, Gemeinsinn und Gier im Widerstreit. Er konstatiert, dass neben unterschiedlichen menschlichen Genen, zuständig für markante Gemütszustände wie Glücksempfinden, Angst, Zufriedenheit, Gier, Ekel und Neugier, auch - und das ist wesentlich - soziale Verhaltensweisen wie Fairness, Empathie und Solidarität biologisch im Verhaltensprogramm des Homo sapiens angelegt sind.

Die Erkenntnis, dass soziales Sein moralisches Bewusstsein bestimmt, teilen in der Kohorte der Philosophen und Gesellschaftskritiker unter anderem Konfuzius-Schüler Menzius, der Literat Bert Brecht, der Ökonom Richard Owen und der »Gefühlssozialist« Albert Einstein. Und damit auch die Überzeugung, dass nur sozial gestaltete Verhältnisse den Grundbedürfnissen des Menschen, dem »Wir«-Gefühl, dem Streben nach Freiheit und individueller Autonomie, nach Anerkennung und Bestimmung seiner sozialen Rolle in der Gesellschaft gerecht werden können.

Geigers Auseinandersetzung mit dem Streben und der Suche des Menschen nach einer Art des Zusammenlebens, das der angemessenen Erfüllung seiner Grundbedürfnisse gerecht werden kann, ohne Unterdrückung und Ausgrenzung, ohne Gier Einzelner nach Reichtum und Macht, beschert einen lehrreichen Gang durch die Geschichte. Erinnert wird beispielsweise daran, dass Lenin zur Sicherung des ersten staatlichen Sozialismus-Versuchs mit der Oktoberrevolution in Russland 1917 dem schmerzvollen Friedensvertrag von Brest-Litowsk zustimmte, womit Russland 26 Prozent seines europäischen Territoriums verlor. Ein hoher Preis. Geiger würdigt die realisierten Ansätze sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit in der Sowjetunion, wendet sich jedoch auch den chronischen Kinderkrankheiten des Sowjetmodells zu. Soziale Sicherheit für alle war seiner Ansicht nach kein billiger Slogan, um die Massen zu ködern, sondern erlebbare Realität in den vor 30 Jahren aufgelösten Systemen des Sozialismus in Europa.

Der Autor wertet Gebrauch und Missbrauch des Sozialismus-Begriffs und analysiert im jeweiligen historischen Kontext Sozialismus-Versuche verschiedener Couleur, realistische Ansätze und gesellschaftlich durchaus beachtliche Ergebnisse. Ausführlich beschäftigt er sich mit der Geschichte der Produktionsverhältnisse in China, der Mentalität der Chinesen und ihrem konstruktiven Verhältnis zur pragmatischen Meisterung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme. Die Auffassung der chinesischen Kommunisten, dass sich der Sozialismus eher hybrid als monolithisch entwickeln und durchsetzen kann, wird sich in der gesellschaftlichen Praxis beweisen müssen.

Der Autor sieht die KP Chinas mit ihrer strikten Wahrung der Prämissen einer sozialistischen Ordnung (Gemeinschaftseigentum an Grund und Boden, kommunale Gewährleistung des Daseins, Gesundheits- und Altersvorsorge) in der Traditionslinie des Marxismus-Leninismus. Er würdigt den von ihr gepflegten neuen Typus internationaler Beziehungen ohne Missionieren und Dominieren. Angesichts der anhaltend prekären internationalen Gemengelage, der Wiederkehr des Wettrüstens, der permanenten Gefährdung des Weltfriedens und des Weltklimas sowie der forcierten Verletzung des Völkerrechts erscheint das chinesische Denken, das nicht den Widerspruch und damit die gewaltbereite Auseinandersetzung der verschiedenen Systeme favorisiert, sondern die Überwindung des Widerspruchs und den Nachdruck auf das Ergebnis, mehr als relevant.

Im letzten Kapitel setzt sich Geiger mit den Weiterentwicklungen der marxistischen Weltsicht auseinander. Er kritisiert, dass unter Missachtung der Klassiker allzu häufig ignoriert wurde, dass »die Idee des Sozialismus Ausdruck praktischer Bewegung und nicht ideologischer Dogmen« sei. Dies habe unter anderem Fritz Behrens erkannt, einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler und Hauptvertreter des Neuen Ökonomischen Systems in der DDR, der jedoch der strikten Ablehnung durch die KPdSU zum Opfer fiel.

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