Aufschwung dank Black Lives Matter

Angehörige der Opfer von Polizeigewalt in Frankreich haben internationale Aufmerksamkeit erhalten. Derzeit gehen sie wegen des geplanten neuen Sicherheitsgesetzes auf der Straße.

  • Laurence Meyer
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Polizeigewalt von Minneapolis, in deren Folge George Floyd im Mai 2020 starb, wurde von mehreren Passanten gefilmt, danach vielfach in sozialen Medien geteilt und in alle Welt gesendet. Sehr schnell entstand daraufhin die größte antirassistische globale Bewegung der Gegenwart. Die beeindruckenden, sich über mehrere Wochen erstreckenden Mobilisierungen zeigten ihren internationalen Charakter.

Das sommerliche Aufblühen militanter, antirassistischer Bewegungen war zwar ein weltweites Phänomen, aber überall organisierten sich die außerinstitutionellen Initiativen lokal und prangerten jeweils landesspezifische Realitäten von Rassismus an. Auch in Frankreich sprach das Thema viele Menschen an. Vor allem während der Ausgangssperre waren überdurchschnittlich viele Schwarze, Araber und Roma von Polizeikontrollen, Strafzahlungen und Festnahmen betroffen.

Laurence Meyer
Jahrgang 1988, hat als Juristin für eine Abgeordnete der Fraktion »La France Insoumise« in der Französischen Nationalversammlung gearbeitet. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Gebieten Verfassungsrecht und Antidiskriminierungstheorie und -praxis. 

Adama Traoré, ein junger Schwarzer Mann, war im Juli 2016 von mehreren Polizisten auf den Boden gedrückt worden und hatte, wie Georg Floyd, kurz bevor er starb, »ich kann nicht mehr atmen« gerufen. Die ältere Schwester des Opfers, Assa Traoré, gründete nach dem Tod ihres Bruders die Initiative »Vérité et Justice pour Adama« (Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama). Sie gehört zu den Organisatoren der beiden antirassistischen Demonstrationen im vergangenen Sommer in Frankreich, an denen mehrere zehntausend Menschen teilnahmen. »Gerechtigkeit« war dabei eine der am meisten gerufenen Parolen. Assa Traoré wurde zu einer Galionsfigur der Bewegung. Ende Juni wurde ihr der »Global Good Award« des US-amerikanischen Fernsehsenders »Black Entertainment Television« (BET) verliehen, mit dem internationale Persönlichkeiten gewürdigt werden, die sich für die Gemeinschaft der Schwarzen einsetzen.

Die Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt und für Gleichberechtigung haben Brüche in der französischen Gesellschaft sichtbar gemacht. Es gibt viele, die den Begriff »Polizeigewalt« vermeiden, was der Realität widerspricht, die Tausende von Menschen erleben, die aus postkolonialen Ländern eingewandert sind. An den Demonstrationen nahmen auch die Grünen, die linke Partei »La France insoumise« (Unbeugsames Frankreich) und die Neue Antikapitalistische Partei teil. Die Sozialistische Partei forderte in der Nationalversammlung eine Untersuchungskommission zur Polizeigewalt, während die Regierung und rechte Parteien von einer »Bestialisierung der Gesellschaft« sprachen, die ein härteres Auftreten des Staates rechtfertigen soll. Polizei und die Frage institutionellen Rassismus sind dank der internationalen Black-Lives-Matter-Bewegung zu politischen Themen geworden, die auch 2022 im französischen Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen werden.

Die Proteste zahlreicher Initiativen stehen in einer Tradition des Widerstands in Frankreich, der mit den Befreiungsbewegungen in den französischen Kolonien begann. In den 1970er Jahren gründete sich etwa die »Coordination des Femmes Noires« (Koordination schwarzer Frauen), die für das Bleiberecht für alle kämpfte und für reproduktive Gerechtigkeit - was das Recht, Kinder zu bekommen und sie selbst aufzuziehen einschließt -, in den 1980er Jahren gab es mit dem »Marsch für Gleichheit und gegen Diskriminierung« eine Kampagne gegen institutionellen Rassismus, der sich in den Pariser Vororten tagtäglich zeigte, und in den 1990er Jahren schließlich entstand das »Mouvement Immigration Banlieue«, unter anderem gegen Polizeigewalt in den Vororten. In all diesen Initiativen forderten von Rassismus betroffene Menschen ihr Recht auf Würde und Gerechtigkeit ein. Die neue Sichtbarkeit antirassistischer Bewegungen beruht auch auf den Errungenschaften dieser Gruppen, von denen viele noch heute aktiv sind.

Zu ihnen zählt die 2010 gegründete Initiative »Vies volées« (Gestohlene Leben). Fatou und Ramata Dieng gehören zu den Gründungsmitgliedern. Sie sind die Schwestern von Lamine Dieng, der im Juni 2007 im Alter von 25 Jahren in Paris starb, nachdem er mit dem Gesicht nach unten, seine Füße zusammengebunden, »unter dem Gewicht von fünf Polizisten zerquetscht« wurde, wie es Fatou Dieng ausdrückt. Die Schwestern initiierten damals das erste Wahrheits- und Gerechtigkeitskomitee, das Vorbild für zahlreiche weitere werden sollte.

Fatou Dieng ist weniger bekannt als ihre Schwester Ramata, obwohl beide bei Gedenkveranstaltungen als Rednerinnen auftreten. Sie sind sich äußerlich sehr ähnlich, tragen die gleiche Frisur und den gleichen fuchsiafarbenen Lippenstift. Beide haben auch die gleiche Art zu sprechen. Unerschrocken gibt Fatou Dieng eine sehr direkte Antwort auf die Frage nach ihren Zielen: »Wir wollen der Polizeigewalt und der Straflosigkeit ein Ende setzen.« Im Jahr 2017 etwa starben 47 Personen an den Folgen von Polizeigewalt. Keiner der beteiligten Polizeibeamten wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Der Kampf gegen die Straflosigkeit dauerte im Fall von Lamine Dieng insgesamt 13 Jahre. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen endeten schließlich mit einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Frankreich stimmte zu, 145 000 Euro an die Familie zu zahlen, um das Verfahren einzustellen und einer erneuten Verurteilung zu entgehen. Das Land war bereits wiederholt für Fälle von Polizeigewalt durch den EGMR verurteilt worden.

Fatou Dieng will die Familien der Opfer von Polizeigewalt zusammenbringen und sie ermutigen, ihre Stimme zu erheben »gegen die Menschenrechtsverletzungen, die von Beamten der Strafverfolgungsbehörden begangen werden«. Neben den Angehörigen von Lamine Dieng umfasst die Initiative inzwischen die Familien von Baba Traoré, Abdelhakim Ajimi, Mahamadou Marega, Youcef Mahdi und Mahamadou Marega - alles nicht-weiße Männer, die im Polizeigewahrsam gestorben sind.

»Wir setzen uns auch für ein Verbot von Polizeigriffen und anderen Techniken ein, die zu einem lagebedingten Erstickungstod führen können«, berichtet sie. Zu den polizeilichen Schmerzgriffen und Foltertechniken, die Menschen wehrlos machen sollen und die »Vies volées« beanstandet, gehören auch diejenigen, die von den Polizisten in Minneapolis angewandt wurden und zum Tod von George Floyd führten. Die Initiative startete 2018 eine Kampagne, um diese Praktiken in Frankreich zu verbieten. Ein entsprechender Gesetzesentwurf hat es sogar in die Nationalversammlung geschafft und stand in diesem Jahr zum ersten Mal auf der Tagesordnung. Aber es kam noch zu keiner Abstimmung.

Fatou Dieng steht deshalb politischen Parteien skeptisch gegenüber. Als Bündnispartner sind ihr andere antirassistische und feministische Initiativen wichtig, wie beispielsweise die Bewegung für Wiedergutmachung in Martinique, die Entschädigung für die Nachkommen ehemaliger Sklaven fordert. Dieng meint: »In Frankreich wird Polizeigewalt geleugnet, als gäbe es sie nur in den Vereinigten Staaten. Doch seit nunmehr 60 Jahren prangern die Betroffenen sie an. Die Behörden hören diese Stimmen nicht. Die Medienberichterstattung über den Mord an Georges Floyd hat nun ein Bewusstsein für Gewalt und Rassismus bei der französischen Polizei geweckt. Wir müssen dies nutzen, um die Forderungen der Familien der getöteten, verletzten und verstümmelten Opfer sichtbar zu machen.«

Am 28. November gingen erneut Hunderttausende auf die Straßen Frankreichs, trotz Pandemie und Ausgangssperre. Wieder geht es um die Polizei und um Rassismus. Das neue Sicherheitsgesetz, das Filmaufnahmen von Polizeieinsätzen und ihre Verbreitung unter Strafe stellt, werten viele als eine gefährliche Einschränkung der Pressefreiheit und des Rechts, von jedem Beamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu erhalten. Initiativen wie »Vies volées« sind wichtiger Teil dieser aktuellen Mobilisierungen. Ihr Kampf im Namen der Opferfamilien wird die Arbeit auch in den kommenden Jahren bestimmen.

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