Von den Mitläufern
Deutschland war das einzige Land, in dem der Faschismus auf demokratische Weise siegte. Die NSDAP hatte dann 8,5 Millionen Mitglieder. Nach dem Krieg gab es ein neues Wort: »Mitläufer«. Das waren Nazis, die es nicht so gemeint haben wollten. Die hatten nun nichts zu befürchten. Heute so, morgen so: Als wäre das Nazisein das Normalste von der Welt gewesen. In den Entnazifizierungsverfahren in den Westzonen wurden 54 Prozent der überprüften Personen als »Mitläufer« eingestuft, in 34,6 Prozent der Fälle wurde das Verfahren eingestellt. Die ungebrochenen Personal-Kontinuitäten in Polizei, Verwaltung, Justiz und Medizin in Westdeutschland stecken in diesen Zahlen. Im Osten war man wesentlich strenger. Der Status des Mitläufers ist ein Witz. 1978 veröffentlichte Klaus Staeck ein Plakat, auf dem stand: »Hitler, Adolf, geb. in Braunau, ist im Endnazifizierungsverfahren eingestuft worden in die Gruppe Nr. IV Mitläufer«. Zu diesem Zeitpunkt war der Mitläufer-Begriff schon abgesunken in die Harmlosigkeit der Jogging-Gruppen, die Zettel in Supermärkten aufhängten: »Mitläufer gesucht«.
Ausgerechnet von den Sicherheitsbehörden kommt nun, 75 Jahre nach Kriegsende, eine Skandalisierung des Mitläufers: In Hamburg stehen fünf Menschen vor Gericht, denen im Rondenbarg-Prozess vorgeworfen wird, bei einer Demonstration während der Proteste gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 Polizisten angegriffen zu haben. Individuelle Beweise: keine. Dass sie auf der Demo mitgelaufen sind, soll für insgesamt 73 Anklagen reichen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen »ostentatives Mitmarschieren« vor und auch »psychische Beihilfe«. Das galt bisher nur für Hooligans, für Nazis noch nie. Aber es geht ja auch gegen links. cm
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