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Die alltägliche Katastrophe
Der Journalist Jan Theurich über die Flüchtlingslager auf Lesbos und die Einschränkung der Pressefreiheit
Sie berichten für das Dunya Collective über die Situation auf Lesbos. Aktuell kritisieren Sie die Behinderung Ihrer Arbeit. Was ist der Hintergrund?
Mitte November wollten wir eine Anlandung von Menschen aus Somalia dokumentieren, die von der Türkei aus im Norden der griechischen Insel Lesbos anlanden sollten. Angesichts der letzten Pushbacks hat die Berichterstattung für mich auch eine Schutzfunktion für die betroffenen Menschen.
Sie wurden aber am Berichten gehindert?
Genau, die Küstenwache war bereits mit einem Polizeibus vor Ort. Obwohl wir uns als Pressevertreter ausgewiesen haben, hat man uns alle Papiere abgenommen und wir wurden genötigt, in zivile Polizeiautos zu steigen. Auch die Beamten vor Ort waren alle in Zivil, niemand hat sich ausgewiesen oder uns die Rechtsgrundlage erklärt. Einer der Beamten sagte nur: »Ihr seid nicht in Gewahrsam genommen.« Dennoch wurde auf der Wache versucht, mich zu verhören und man hat uns von allen Seiten fotografiert. Auch dazu gab es keine Rechtsgrundlage und wir hatten keine Möglichkeit zu widersprechen.
Werden Sie dagegen rechtlich vorgehen?
Das ist noch nicht klar. Aber eine Klage wird wahrscheinlich zu nichts führen, außer, dass die Polizei auf Lesbos uns noch mehr auf dem Schirm hat. Das war nicht das erste Mal, dass sie unsere Berichterstattung behindert hat.
Auch ehrenamtliche Seenotretter werden kriminalisiert, ihnen wird Menschenschmuggel und Spionage vorgeworfen.
Erst einmal: Das sind meist keine Seenotretter im eigentlichen Sinn. Sondern Leute, die Menschenrechtsverletzungen beobachten und protokollieren, Hilfsnetzwerke aufbauen und die Küstenwache über Menschen in Seenot informieren. Für mich steht das ganz klar im Zusammenhang damit, dass Pressevertreter eingeschüchtert werden. Die repressive Schraube zieht sich immer weiter zu: Erstens haben wir einen Angriff auf die NGOs, zweitens das Vorgehen gegen die Presse, Filmverbote in gewissen Regionen der Insel, und drittens die Schließung alternativer Strukturen.
Zuletzt wurde öffentlich, dass deutsche Bundesbeamte an illegalen Pushbacks in Griechenland beteiligt waren - also daran, Flüchtlinge auf dem Meer auszusetzen. Was fordern Sie von der Bundesregierung?
Deutschland und Europa haben eine Verantwortung, Menschen aufzunehmen. Man kann Griechenland damit nicht alleine lassen. Es fehlt aber der politische Wille. Allein in Deutschland haben sich etliche Kommunen bereit erklärt, Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Das scheitert am Unwillen des deutschen Innenministers. Und auch das neue Migrationspaket der EU wird daran nichts ändern. Gerade wurde auf Lesbos der Bau eines neuen Lagers beschlossen, ungefähr drei Kilometer entfernt von der Mülldeponie Vastria. Das ist schon ein deutliches Signal: Mitten im Nirgendwo, in der Nähe einer Mülldeponie. Was ist übrig geblieben von der Forderung »No more Morias«?
Kurz vor dem Brand in Moria im September gab es dort Corona-Infektionen. Wie ist die gesundheitliche Situation in dem neuen Lager?
Über Corona-Infektionen kann ich nicht viel sagen. Aber generell sind die hygienischen Zustände schlecht. Und damit ist eine wichtige Bedingung, um gesund zu bleiben, nicht erfüllt. Es gibt zwar medizinisches Personal. Aber mir haben Lagerbewohner berichtet, dass eine Frau für ihren Diabetes eine Wochenration Paracetamol erhalten hat. Also eine wirkliche medizinische Versorgung ist nicht gegeben. In dem Camp gibt es eine Krätze-Epidemie, die nicht unter Kontrolle zu bekommen ist. Wenn ich Wäsche nicht heiß waschen kann, es nasskalt und dreckig ist, sind das ideale Bedingungen für Krätzemilben. Natürlich bringt das auch psychische Schäden mit sich. Dazu kommt der Lockdown, der die Geflüchteten hart trifft.
Der ist immer noch gültig?
Ja, der wurde seit Ende März nie ausgesetzt. Nur der Brand in Moria hat ihn quasi pausiert. Die Menschen sind in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Jede dieser Gruppen sind spezielle Zeiten und Tage für den Ausgang zugeteilt. Von Montag bis Samstag können die Menschen also nur ein Mal für maximal vier Stunden aus dem Lager. Aber nur ein Mitglied pro Familie, das heißt, es darf nicht jede Person einmal in der Woche das Lager verlassen. Sonntag ist es komplett dicht.Wie bewerten Sie die journalistische Berichterstattung vor Ort generell?
Es gibt viel zu wenig Aufmerksamkeit. Die großen Medien sind nur in der Zeit des Brandes gekommen, jetzt sind alle wieder weg.Weil nichts »Neues« mehr passiert?
Ja, sie kommen, wenn die große Katastrophe passiert. Aber für die ganzen alltäglichen Katastrophen, die die Menschen hier wirklich kaputtmachen, dafür ist wenig Interesse da. Und ja, es ist natürlich die Wiederholung des Gleichen, das will niemand mehr hören. Aber ich glaube, auch das ist ein Teil, ob bewusst oder unbewusst, der Migrations- und Asylpolitik: Dass sich die Berichterstattung darüber erschöpft.
Wird Pressearbeit jetzt schwieriger?
Die Berichterstattung ist generell sehr beschränkt. Das Camp in Kara Tepe kann von der Presse nur mit Sondergenehmigung betreten werden - ich habe die noch nie bekommen. Und auch dann nur mit Begleitung der Polizei oder Angestellten aus dem Lager.
Und die Pressefreiheit im Allgemeinen?
In Griechenland ist die Pressefreiheit generell nicht das höchste Gut. Aber wenn Frontex und die Küstenwache wegen der Pushbacks unter Druck stehen, wollen sie natürlich keine Journalisten haben, die das auch noch filmen könnten.Was bedeutet das für Sie persönlich?
Natürlich habe ich immer schon von den Begriffen »Festung Europa« und »Abschottungspolitik« gehört. Aber nach den neun Monaten hier habe ich auch emotional verstanden, was das bedeutet. Also wie die Menschen kaputtgehen an dieser Migrations- und Asylpolitik der Europäischen Union. Sie werden über die Zeit zermürbt. Und dieser Faktor spielt auch bei der Presse hinein: die Zeit.Also das ist Strategie?
Ja. Ich denke, die Abschottungspolitik funktioniert nicht nur über die räumliche Segregation von Menschen, sondern auch über die zeitliche Schiene.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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