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Erst mal runter von der Straße
Zwei Jahre nach seinem Start ist das Projekt Housing First eine Erfolgsgeschichte
Nur zwei Blocks sind es von Benjamin Scharbs Wohnung bis zur Stadtgrenze Berlins, dahinter beginnt schon Brandenburg. Scharb wohnt im äußersten Osten der Stadt, im achten Stock eines dieser Plattenbauten, die den Bezirk Marzahn-Hellersdorf prägen. Graue und weiße Riesen aus Beton mit kleinen Balkonen, Blumenkübel hängen über den Geländern. Von seinem Fenster aus kann er die Straßenbahn vorbeifahren sehen und bis in die Gärten der Welt schauen, wie der große Park ein paar Kilometer weiter heißt – doch er war noch nie dort. Ein Zimmer, Küche, Bad und eine ausklappbare Couch, eine Fernsehecke mit vielen DVDs sind seine ganze Welt. Die Wohnung ist schlicht, Scharb wohnt hier mit seinen zwei Hündinnen. Besuch bekommt er eigentlich nicht mehr, seit sein bester Freund vor Kurzem gestorben ist. »Ich hab mit niemandem großartig Kontakt«, sagt der 35-Jährige, »grundsätzlich bin ich ein Einzelgänger. Ich bin eher so für mich.«
Seit etwa drei Jahren lebt Benjamin Scharb in Berlin. Zwei davon war er ohne eigene Wohnung, wie schon zuvor in seiner Heimatstadt Köln und anderen Städten Deutschlands. Zehn Jahre hat er zusammengerechnet auf der Straße verbracht, wie er sagt. Seine Geschichte ist, wie die von vielen Obdachlosen, komplex und hat ab einem bestimmten Zeitpunkt auch mit Süchten und Abhängigkeit zu tun. Aber vor anderthalb Jahren änderte sich alles: Über einen Sozialarbeiter, der ihn am U-Bahnhof Alexanderplatz ansprach, entstand der Kontakt zum Sozialprojekt Housing First – und deshalb sitzt Scharb jetzt hier, in seiner ersten eigenen Wohnung seit über zehn Jahren.
Laut einer Studie aus dem vergangenen Jahr haben etwa 650 000 Menschen in Deutschland keine eigene Wohnung. Fast 50 000 davon leben auf der Straße, sind also obdachlos. Ende Januar dieses Jahres wurden in einer groß angelegten Zählungsaktion knapp 2000 Menschen erfasst, die in der Hauptstadt auf der Straße leben – Kenner*innen der Szene halten diese Zahl allerdings für viel zu niedrig. Viele Menschen ohne eigene Wohnung kommen bei Freunden oder Bekannten unter oder leben in großen Sammelunterkünften. Hier gelten strenge Regeln im Bezug auf Alkohol- und Drogenkonsum, Verstöße werden oft hart sanktioniert – und führen nicht selten beim ersten Mal direkt zurück auf die Straße.
Das Projekt Housing First verfolgt einen anderen Ansatz: erst die Wohnung, dann Probleme wie Drogensucht, Alkoholabhängigkeit oder psychische Krankheit angehen. Mit anderen Worten: akzeptieren statt sanktionieren – und mit der eigenen Wohnung einen Schutzraum schaffen, der den Weg in ein geregeltes Leben möglich machen soll. »Das Wesentliche daran ist, dass wohnungslose Menschen mit physischen Problemen, mit Suchtproblematik, also einer multiplen Problemlage, die lange schon obdachlos sind, als allererstes eine Wohnung vermittelt bekommen«, fasst Sozialarbeiter Stefan Laurer zusammen. »Und aus der Situation heraus, dass der Mensch dann einen eigenen Wohnraum hat mit einem eigenen Mietvertrag, der nicht befristet ist, sollen dann Angebote gemacht werden, die die sonstigen Lebenssituationen des Menschen verbessern können.«
Das Modellprojekt startete im Oktober 2018, auf drei Jahre ist es zunächst angelegt. Unterstützt wird es von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Vorbild sind die USA, schon seit Ende der 1980er Jahre wurde die Idee einer eigenen Wohnung als erster Schritt der sozialen Reintegration von Obdachlosen in Los Angeles erprobt und sukzessive in andere Bundesstaaten exportiert. Der Housing-First-Ansatz hat seitdem große Erfolge erzielt und wird inzwischen weltweit unter anderem in Australien, Kanada, Frankreich und Großbritannien angewendet.
Eine Erfolgsgeschichte im Kampf gegen Obdachlosigkeit, die nun also auch in Berlin geschrieben wird. 31 Menschen konnten durch Housing First Berlin bislang von der Straße in eine eigene Wohnung vermittelt werden. Benjamin Scharb in seinem Plattenbau war einer der Ersten. Er steht nach wie vor in engem Kontakt zum Projekt, denn sozialpsychologische Begleitung und Hilfe bei Problemen mit Ämtern und Bürokratie ist zentraler Bestandteil der Housing-First-Philosophie, erzählt Sebastian Böwe, der für die Akquise der Wohnungen zuständig ist. »Wenn man lange auf der Straße gelebt hat, dann zieht man sich nicht wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf, sondern man braucht wirklich Hilfe«, sagt Böwe. »Und das ist eigentlich der Schlüssel zu unserem Projekt. Die wissen nicht, wo sie Geld herkriegen, die wissen nicht, wo sie einen Personalausweis herkriegen, die wissen überhaupt nicht mehr, wie man ein Bankkonto eröffnet oder sind dazu gesundheitsbedingt nicht in der Lage.«
Marcel ist 37 Jahre alt und sitzt noch bis Januar 2021 in der JVA Tegel, »wegen Beschaffungskriminalität«, wie er auf Freigang im Büro von Housing First Berlin erzählt. Vor seiner Haft war auch er jahrelang wohnungs- und streckenweise obdachlos. Dazu kamen Drogensucht und Probleme mit der Polizei. Jetzt gibt es ein Licht am Ende des Tunnels: Der Plan ist, ihn durch das Projekt direkt nach seiner Haft in einer Wohnung unterzubringen. Was bedeutet dieser Schritt für ihn? »Freiheit!«, sagt Marcel. »Einfach, dass ich mir mein Leben jetzt so langsam aufbauen kann nach der Haft, die ganzen behördlichen Sachen mache ich gerade. Und ja, ich freue mich riesig – ist einfach ein richtig geiles Gefühl.«
Marcel erzählt, dass er während seiner kurzen Haftzeit mitbekommen hat, wie Menschen ohne eigene Wohnung, die gerade erst entlassen wurden, wieder zurück nach Tegel kamen. »Die waren auf der Straße, haben halt wieder Scheiße gebaut«, sagt er. »Ich glaube, das wäre anders, wenn die rausgehen würden und sich eine Wohnung schick machen, sich schön einrichten könnten. Ich glaube, das würde dann ganz anders laufen.«
Erfolgsgeschichten wie die von Benjamin Scharb, der jetzt eine Ausbildung zum Koch machen möchte und schon lange keinen Kontakt mehr zu Drogen und Alkohol hatte, unterstreichen die Wirksamkeit des Housing-First-Ansatzes und machen klar, wie zentral eine eigene Wohnung als Schutzraum und Ruheort bei der Rückkehr in ein geregeltes Leben ist. So sehen das auch Sebastian Böwe und Stefan Laurer von Housing First Berlin und hoffen, dass ihr Projekt nach Auslaufen der Projektphase im Winter 2021 weitergeführt wird – und zwar in größerem Stil, damit sie noch mehr Menschen helfen können, weg von der Straße zu kommen.
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