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Was es heißt, der Norm nicht zu entsprechen
Beziehungsgeflechte in der türkischen Großstadt: Die Serie «Acht Menschen in Istanbul»
Acht Menschen in Istanbul« dreht sich - wie der Titel sagt - um acht von 16 Millionen Istanbuler*innen, deren Leben miteinander, mal mehr mal weniger offensichtlich, verflochten sind. Regisseur und Drehbuchautor der Serie ist der mehrfach ausgezeichnete Berkun Oya, der bereits bei der Netflix-Serie »Das Geheimnis des Kommissars« Regie führte. In seinem neuen Werk sitzen sich zunächst die laizistisch, verwestlichte Upperclass-Psychiaterin Peri (Defne Kayalar) und die junge Reinigungskraft Meryem (Öykü Karayel), die mit einem ländlichen Dialekt spricht, gegenüber.
Meryem wird immer wieder ohnmächtig, ohne dass es dafür körperliche Ursachen gibt. Deswegen ist sie Patientin in der Praxis von Peri, die zu Beginn noch mit der Ausgeglichenheit eines Buddha und der Souveränität und Zurückhaltung eines Menschen im Panoptikum reagiert. Im Laufe der Serie werden Fragmente aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der beiden gezeigt, die das Gepäck widerspiegeln, das jede einzelne permanent tragen muss.
Es wird schnell klar: Bedingt durch ihre eigene Sozialisation beginnt Peri, Meryem zu exotisieren (in der türkischen Originalversion: ötekileştiriyor), weil diese eine Hijabi ist. Und spätestens als es zu einer Namensverwechslung kommt (man kann sich denken, wer die einzige Person mit Kopftuch in ihrem Leben ist), wird das bestätigt. Und wie so häufig hat dann die Klientin mit den psychischen Problemen auch noch Angehörige, denen es nicht gut geht: Meryem lebt mit ihrem Bruder, seiner Frau und den beiden Kindern am Stadtrand. Die Schwägerin Ruhiye ist ebenfalls psychisch erkrankt und traumatisiert durch die sexualisierte Gewalt, die sie vor vielen Jahren erlebt hat. Ihr Ehemann erfordert vermutlich die größte Empathie der Zuschauer*innen, er trägt die finanzielle Hauptverantwortung für die Familie, arbeitet in einem Club und ist mit Ruhiyes krankheitsbedingtem Verhalten überfordert und reagiert ständig cholerisch. So wie auch in Wirklichkeit bei Überforderung der Eltern die Kinder vernachlässigt werden, ist es auch in der Serie. Man erfährt jedoch nicht viel über ihre Gedanken oder ihre Gefühlswelt bezüglich all dessen, was um sie herum geschieht.
Als Gegensatz zu der Psychiaterin scheinen in der achtteiligen Serie der Hodscha, der Imam, und sein angehender Nachfolger zu fungieren. Doch mit Vorurteilen kommt man nicht weit in »Acht Menschen in Istanbul«. Der Hodscha ist ein empathischer Mann, Vater einer Adoptivtochter. Er ist ein zurückhaltender und für Meryem bedeutender Ratgeber, genauso wie Peri für sie mit der Zeit an Bedeutung gewinnen wird. Der Imam antwortet Ratsuchenden eher allgemein und metaphorisch, stellt Fragen im Sinne der sokratischen Gesprächsführung und verweist auf das Jenseits, erklärt das Diesseits als Geduldsprobe und greift dabei auf das Symbol des Islams, die Tulpe, zurück. Sein Nachfolger, eine etwas verkopftere und gelehrtere Version seiner selbst, mag Meryem und zitiert ihr gegenüber immer wieder den Pastorensohn und Psychiater C. G. Jung.
Auch Peri hat eine Vertraute: ihre Supervisorin und Freundin Gülbin (Achtung Whitewashing! Die Schauspielerin ist keine Kurdin). Gülbin, die Brückenbauerin, hat wiederum Konflikte mit ihrer älteren Schwester. Zunächst scheint sich der Streit um die Medikation ihres Bruders mit Behinderung zu gehen (Achtung Cripping up! Ein Schauspieler ohne Behinderung verkörpert die Rolle). Doch schon bald reagieren die beiden so empfindlich aufeinander, dass schnell klar wird: Sie sind sich grundsätzlich uneins, wessen Nähe man als kurdischer Mensch in einem kurdenfeindlichen Land wie der Türkei suchen oder vermeiden sollte.
Bemerkenswert ist, dass hier im Jahr 2020 in einem Einsprachigkeit als Norm betrachtenden Land wie der Türkei Kurdisch gesprochen wird. Neben dem Hauptthema psychische Gesundheit werden in der Serie Phänomene wie Masturbation, Queerness und das Ablegen des Kopftuchs angedeutet. Diese subtile Thematisierung kann als künstlerische Freiheit gedeutet werden. Es kann aber auch sein, dass der Regisseur die Serie vor einer Zensur seitens des RTÜK (oberster Rundfunk- und Fernsehrat) zu schützen versucht.
Einen seinem Herkunftsmilieu entfremdeten Fuckboy namens Sinan gibt es in »Acht Menschen in Istanbul« natürlich auch. Die Toilettenszenen in seinem Luxusapartment sind besonders sehenswert. Melisa, eine erfolgreiche Schauspielerin, die in einer Fernsehserie mitspielt, ist eine weitere dieser acht Figuren, die, ohne es zu wissen, miteinander verbunden sind. Türkische Serien, weltweit bekannt und erfolgreich, bekommen durch sie ihr Fett ab. Aber die grandiosen Schauspielerinnen wie Öylü Karayel (bekannt aus der Serie »Kuzey Güney«, zu deutsch »Nord Süd«) vollbringen im Gegensatz zu den sonstigen Serien aus der Türkei, wo meistens nach Schönheit und Bekanntheitsgrad statt nach schauspielerischer Fähigkeit gecastet wird, eine authentische Darstellung der Charaktere, ohne zu stereotypisieren. Und verdeutlichen dadurch die angesprochene Problematik mit türkischen Serien par excellence. Der Titel der Serie »Bir başkadır« assoziiert mit dem Klassiker »Bir baskadir benim memlektim« (»Meine Heimat ist unvergleichlich«). So ist jede einzelne Figur in dieser Serie zwar unvergleichlich, doch was sie vereint, ist ihre Einsamkeit, die Notwendigkeit, sich selbst zu reflektieren, und der daraus resultierende Wunsch, verstanden zu werden. Diese Folgen spielen zwar in Istanbul, jedoch sind ihre Kernelemente universell und übertragbar auf jede Metropole.
Jede Episode endet passend mit einem Lied von Ferdi Özbegen, dem Sohn einer Armenierin und einem aus Kreta Vertriebenen, der selbst queer ist und Songs wie Lionel Richies »Hello« ins Türkische adaptiert und damit sowohl die Herzen der Eliten als auch der armen, in die Großstadt ausgewanderten Menschen erobert hat und der weiß, was es heißt, nicht der Norm zu entsprechen. Man merkt: Diese Serie ist bis ins kleinste Details voll von Bedeutung und wird noch lange von sich reden lassen.
»Acht Menschen in Istanbul« (»Bir başkadır«), verfügbar auf Netflix.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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