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Karl aus der Kiste
Der Oberstdorfer Karl Geiger wird im slowenischen Planica Skiflug-Weltmeister und demnächst zu Hause auch Papa
Die Goldmedaille musste sich der neue Skiflug-Weltmeister Karl Geiger auf dem Siegerpodest in der leeren Arena von Planica selbst umhängen. Ein Zeichen dafür, in welch schwierigen Zeiten wir derzeit alle leben. Für den Oberstdorfer sind in den vergangenen Monaten jedoch gleich mehrere Träume in Erfüllung gegangen. Im September hat er seine Freundin Franziska geheiratet. Am Samstag krönte sich »Kleinschanzen-Karle«, wie er sich selbst nennt, sensationell zum König der Flieger. Und jede Minute kann der 27-Jährige auch noch zum ersten Mal Papa werden.
Aus diesem Grund hatte ihn der deutsche Skisprung-Bundestrainer Stefan Horngacher auch vor der WM nach Hause geschickt gehabt. Statt beim Weltcup im russischen Nischni Tagil mitzuspringen, verbrachte Geiger daheim Zeit mit seiner hochschwangeren Frau. »Er wird Vater und war nicht mehr 100 Prozent bei der Sache. Und wichtiger ist schon noch die Familie«, begründete Horngacher seine aus dem Bauch getroffene Entscheidung. Ausgeruht kehrte Geiger dann zur Skiflug-WM ins Team zurück. Und bescherte mit seinem ersten großen Einzeltitel dem österreichischen Trainer-Guru Horngacher die erste Goldmedaille als deutscher Cheftrainer.
Am Ende von zwei grandiosen Flugtagen in Slowenien lag Geiger nach einer Gesamtflugweite von 936,5 Metern die Winzigkeit von 0,5 Punkten - umgerechnet gut 41 Zentimeter - vor dem favorisierten Gesamtweltcup-Spitzenreiter Halvor Egner Granerud aus Norwegen. Geschlagen auf Platz drei landete der deutsche Mitfavorit Markus Eisenbichler, der beste Kumpel von Geiger im Team. Das sorgte nicht nur bei Chefcoach Horngacher für ungläubiges Kopfschütteln: »Da kommt der Karl aus der Kiste und holt den Weltmeistertitel.« Auch der neue Champion selbst war »baff«, wie er verriet: »Es ist einfach unbeschreiblich, bei einem Großevent ganz oben zu stehen. Speziell im Skifliegen - das hat mir niemand zugetraut. Es ist einfach Wahnsinn.«
Eine bittere Enttäuschung beim Skifliegen hatte vor inzwischen bald drei Jahren diese Entwicklung eingeleitet. Bei der letzten Flieger-WM in seinem Heimatort Oberstdorf war Geiger nur als Vorspringer dabei gewesen, weil er es nicht ins deutsche Team geschafft hatte. Kurze Zeit später gewann er jedoch die Team-Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang. Das war der Knotenlöser. Bei der WM 2019 gewann er Gold im Mixed und im Team sowie Einzelsilber, stand aber trotzdem noch im Schatten des dreifachen Weltmeisters Eisenbichler. So wie bisher in diesem Winter. Als es in Planica jedoch drauf ankam, war Karl Geiger vor allem im Kopf topfit.
Der ausgebildete »Bachelor of Engineering« und grandiose Analytiker hat sich über die Jahre ein perfektes Konzept zurechtgelegt, das auf »Entschlossenheit und Willensstärke« beruht. Wenn andere im Wettkampf schwächeln, kann Karl Geiger mental oft noch einmal eine Schippe drauflegen. »Ich begebe mich in den Tunnel. Und wenn es darauf ankommt, drücke ich drauf und attackiere mit Vollgas.« So war es auch vor dem letzten Sprung in Planica. Sein großer Konkurrent Granerud hatte die Tagesbestweite von 243 Metern vorgelegt. Doch Karl Geiger konnte kontern und flog hauchdünn über die grüne Linie zu Gold.
Danach fiel er überglücklich auf die Knie, ehe ihn sein Kumpel Markus Eisenbichler umarmte. »Ich gönne es Karl von Herzen und bin megahappy über meine Bronzemedaille, weil ich dem Druck standgehalten habe«, sagte der Weltmeister von der Großschanze. Die beiden deutschen Vorflieger schlafen auf Reisen normalerweise in einem Zimmer. Derzeit ist das wegen des coronabedingten Einzelzimmerkonzepts im deutschen Team anders, aber das hat den Zusammenhalt eher noch gestärkt. Gleich nach der Landung gratulierte Olympiasieger Andreas Wellinger per Telefon dem neuen Champion. Und auch der letzte deutsche Skiflug-Weltmeister Severin Freund (2014 in Harrachov) gehörte zu den Gratulanten.
Beide hatten den Sprung ins deutsche Team bei der Skiflug-WM verpasst. Das sagt viel über die Qualität, der deutschen Skisprungmannschaft unter Chefcoach Horngacher. »Das Trainerteam agiert ruhig und macht keinen Druck, auch wenn wir mal nicht einer Meinung sind. Ich bin megahappy mit der Gesamtsituation«, lobt Eisenbichler. Das sieht Karl Geiger naturgemäß genauso. Zumal in diesem Winter noch zwei sportliche Highlights in der Heimat anstehen. Kurz vor dem Jahreswechsel beginnt in Oberstdorf traditionell die Vierschanzentournee. Und dann steht auch noch die Nordische Ski-WM im Allgäu (24. Februar bis 7. März 2021) auf dem Plan. Da kann sich der werdende Papa und Skiflug-Weltmeister Karl Geiger in diesen schwierigen Zeiten noch weitere Träume erfüllen.
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