»Es muss eine bessere Entlohnung geben«

Silvia Helbig vom Deutschen Gewerkschaftsbund über die Löhne in Werkstätten für behinderte Menschen

  • Martin Brandt
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland arbeiten über 300 000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Drei Viertel von ihnen haben eine geistige Behinderung, 21 Prozent eine psychiatrische Diagnose und 4 Prozent eine körperliche Behinderung. Betroffene und ihre Interessensverbände kritisieren seit Jahren, dass der Mindestlohn für die dort Beschäftigten nicht gilt. Derzeit erhalten sie einen durchschnittlichen Lohn von 1,35 Euro pro Stunde. Was halten Sie von der Kritik?

Bei der Frage, ob jemand einen Mindestlohn erhalten soll, ist meine Antwort als Gewerkschafterin erst einmal grundsätzlich: Ja. Bei den Werkstätten ist das jedoch ein wenig komplizierter. Die Beschäftigten gelten dort nicht als »normale« Arbeitnehmer, weil die Werkstätten offiziell der Rehabilitation dienen. Sie sind ein geschützter Raum. Ich finde, es ist eine sozialpolitische Errungenschaft, dass Menschen dadurch eine Tagesstruktur haben und in eingeschränkter Form am Arbeitsleben teilhaben können. Wegen des hohen Armutsrisikos muss es jedoch bei allen behinderten Menschen, seien sie nun beschäftigt oder arbeitslos, eine bessere Entlohnung geben.

Aber?

Wenn man in den Werkstätten den Mindestlohn einführt, würden die Betroffenen auch den Status des geschützten Beschäftigungsverhältnisses verlieren und könnten wie normale Arbeitnehmer gekündigt werden. Auch könnten sich die Werkstätten aussuchen, wen sie beschäftigen wollen. Diejenigen mit weniger Leistungsvermögen würden dann gar nicht mehr eingestellt werden. Das wollen wir nicht.

Eine Auswahl findet ja bereits jetzt statt, weil die Beschäftigten dazu angehalten sind, ein gewisses Mindestmaß an Wirtschaftlichkeit zu erbringen. Das müssen sie auch, schließlich kooperieren verstärkt mittelständische Unternehmen mit den Werkstätten und lassen dort billig produzieren. Die »Jobinklusive«, ein Projekt des Berliner Vereins Sozialhelden, beschreibt die Werkstätten daher als »Sonderarbeitswelten«. Schließen Sie sich dieser Kritik an?

Es gibt berechtigte Kritik an dem System mit den Werkstätten. Aber wir brauchen sie weiterhin, um nicht erwerbsfähigen Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen. Entscheidend ist, dass Menschen da nicht auf Dauer stecken bleiben. Aus den Werkstätten müssen viel mehr Brücken in reguläre Arbeit gebaut werden, das klappt leider immer noch viel zu selten.

Die Unternehmen können sich die Zusammenarbeit mit den Werkstätten auf die Ausgleichsabgabe anrechnen lassen. Worum handelt es sich bei der Ausgleichsabgabe?

Eine Ausgleichsabgabe müssen jene Unternehmen ab 20 Mitarbeitern zahlen, die zu wenige schwerbehinderte Menschen einstellen. Leider fördert dies in der Praxis die Segregation des Arbeitsmarktes, weil sich die Unternehmen von ihrer Verpflichtung, behinderte Menschen einzustellen, mit der Ausgleichsabgabe freikaufen können.

Die Regierung hat eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, das Entgeltsystem der Werkstätten zu evaluieren. Sie selber sitzen im Beirat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit anderen Akteuren. Welche Aufgabe hat die Studie?

Das Projekt läuft bis Mitte 2023. Es soll die verschiedenen Entgeltmodelle prüfen und Handlungsempfehlungen geben. Das betrifft die Frage nach dem Mindestlohn genauso wie die Prüfung der Modelle Teilhabegeld oder Basisgeld.

Welche Idee steckt hinter dem Basisgeld?

Das Basisgeld wurde von den Werkstatträten Deutschland e. V. entwickelt, deren Arbeit wir unterstützen. Es soll dauerhaft voll erwerbsfähig geminderten Menschen ein monatliches Einkommen in Höhe von 70 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnittverdienstes sichern. Das sind derzeit 1450 Euro.

Betroffene empfinden es als diskriminierend, dass sie wegen des fehlenden Mindestlohns Grundsicherungsleistungen beantragen und ihre Finanzen offenlegen müssen.

Der Vorteil beim Basisgeld ist, dass keine Grundsicherung beantragt werden muss.

Sie bevorzugen hingegen das Teilhabegeld.

Während das Basisgeld nur für dauerhaft erwerbsunfähige Menschen gelten soll wie für die Beschäftigten in den Werkstätten, soll das Teilhabegeld für alle Menschen mit Behinderung gelten. Abhängig vom Grad der Behinderung würden sie zusätzlich zur Sozialhilfe monatlich eine Art Nachteilsausgleich erhalten. Das funktioniert so ähnlich wie das Blindengeld und würde das Armutsrisiko ausgleichen.
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