- Kommentare
- Lockdown
Sterben für den Standort
Im aktuellen Lockdown gibt es zwar diverse Stoppschilder im Privaten – aber weitgehend freie Fahrt für große Teile der Wirtschaft.
Im Sommer waren Hochzeiten, illegale Open-Air-Partys und abendliches Biertrinken vor Kiosken das, was in der Vorweihnachtszeit zunächst das öffentliche Glühweintrinken und nun die Gestaltung der Weihnachtsfeiertage ist. Folgt man den Prämissen der Debatte im Umgang mit der Pandemie, geht es vor allem um individuelles Verhalten. Jeder Einzelne entscheide durch sein Handeln über Leben und Tod. Den »Charaktertest für die Gesellschaft«, von dem vor einigen Wochen Gesundheitsminister Jens Spahn sprach, haben wir nicht bestanden: In Deutschland sterben gerade mehr denn je an einer Covid-19-Infektion.
Weite Teile der Wirtschaft brauchten bisher keine Prüfung ablegen. Zwar wurden Kulturbetriebe und Gastronomie schnell heruntergefahren, der Einzelhandel folgte, als keine andere Wahl blieb. Ansonsten sehen sich am Standort Deutschland Unternehmen und Konzerne allenfalls mit freundlichen Appellen seitens der Politik konfrontiert. So baten Angela Merkel, Olaf Scholz und Markus Söder bei ihrer Pressekonferenz Mitte Dezember unisono die »Arbeitgeber«, wenigstens für ein paar Tage Home Office zu ermöglichen.
Während das Privatleben inzwischen streng reglementiert ist, gibt es keine Verordnungen oder gar Schließungen bei den für das deutsche Exportmodell systemrelevanten Konzernen. In diesem angeblich harten Lockdown werden sich auch weiterhin Menschen Arsch an Arsch in vollen Bussen und Bahnen auf den Weg zur Arbeit begegnen, wird weiterhin Nase an Nase gemeinsam Pause gemacht, werden weiterhin Pakete gepickt, gepackt und zugestellt.
Der aktuelle Lockdown setzt damit im Kern die bewährten Verkehrsregeln der vergangenen Monate fort: Diverse Stoppschilder im Privaten – und weitgehend freie Fahrt für große Teile der Wirtschaft.
Um nicht missverstanden zu werden: Ja, es kommt aktuell auch auf individuelles Verhalten an: auf Abstand halten, auf Hygieneregeln, auf Kontaktreduzierung im Alltag. Dennoch ist es wenig verwunderlich, dass in den vergangenen Wochen die Alltagsmoral zur Bekämpfung der Pandemie in der Bevölkerung nachgelassen hat: Wer den ganzen Tag vor vollen Schulklassen steht, an der Supermarkt-Kasse mit Hunderten Menschen zu tun hat, bis in den späten Abend hinein diversen Fremden Pakete in die Hand drücken muss, mag nicht immer zu jedem Zeitpunkt einsehen, dass er oder sie sich nach dem Arbeitstag am besten alleine zu Hause einschließen soll.
Was soll man dann sagen, wenn irgendwann das Telefon klingelt und ein Meinungsforschungsinstitut die Gretchenfrage des Jahres 2020 stellt? Bei der Frage »Finden Sie, dass die Corona-Maßnahmen zu weit gehen oder gehen sie Ihnen nicht weit genug?« gibt es keine Differenzierung zwischen Privat- und Arbeitsleben.
Das dürfte ganz im Sinne eines Mannes sein: Rainer Dulger. Der Ende November gewählte Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hatte noch vor ein paar Tagen im Handelsblatt gesagt: »Wenn schärfere Maßnahmen geplant werden, sollten wir vor allem über die Zeit nach Feierabend reden.«
Diese Woche tauschte sich Dulger mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier aus, um die richtigen Rahmenbedingungen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu setzen, wie es in der gemeinsamen Presseerklärung heißt. Das deutsche Kapital soll – mal wieder – gestärkt aus der Krise hervorgehen. Das heißt wohl auch: Die strategisch wichtigen Bereiche des hiesigen Exportmodells sollen weitgehend verschont bleiben von irgendwelchen Maßnahmen.
Seit Wochen wird beinahe täglich ein neuer Rekord bei den Corona-Todeszahlen in Deutschland verkündet. Aktuell meldet das Robert Koch Institut, dass allein am Donnerstag 813 Menschen verstorben sind. Diese Toten werden zugunsten der Interessen des Kapitals in Kauf genommen. Die täglich aufs Neue erschreckenden Zahlen sind Ausdruck eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das den Profit über das Leben stellt.
Trotz zur Schau gestelltem Aktionismus der Politik bei der Einschränkung des Privaten, trotz eindringlicher, aber folgenloser Appelle an die Wirtschaft, trotz emotionaler Reden der Bundeskanzlerin: Der während der ersten Welle der Pandemie gefeierte deutsche Weg entpuppt sich spätestens jetzt als einer, bei dem für den Standort gestorben wird.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.