»Wenn ich alleine sein könnte, das wäre super«

Vom Heim ins Zuhause: Der Roman »Home Girl« von Alex Wheatle über sogenannte Systemsprenger in Großbritannien

  • Anna Panhoff
  • Lesedauer: 4 Min.

Alex Wheatle weiß, wovon er spricht, wenn er in seinem Roman »Home Girl« über das britische Fürsorgesystem schreibt. Der britisch-jamaikanische Autor ist selbst in Heimen und bei Pflegefamilien aufgewachsen und hat nun seine Erinnerungen daran in die Geschichte über die 14-jährige Naomi und ihren Werdegang im Fürsorgesystem einfließen lassen.

Die fiktive Naomi hat schon jede Menge durchgemacht in ihrem kurzem Leben: Ihre Mutter begeht Suizid, ihr Vater ist Alkoholiker, um den sie sich lange kümmert. Diese Verantwortung, die sie schon früh tragen musste, gibt Naomi das Gefühl, eigentlich schon längst erwachsen zu sein. Ihrer Sozialarbeiterin Louise liegt sie deshalb damit in den Ohren, in eine eigene Wohnung zu ziehen, weil es in den bisherigen Pflegefamilien einfach nie geklappt hat: »Wenn ich alleine sein könnte, das wäre super.«

Auch wenn die Jugendliche nach außen hin unabhängig auftritt und alle wissen lässt, wie überflüssig sie es findet, dass andere sich um sie kümmern, wird schnell klar, wonach sie sich eigentlich sehnt: nach Zugehörigkeit und einem echten Zuhause. Bei der neuen Familie, den Goldings, gerät ihre Mauer aus Coolness schnell ins Wanken. Hier fühlt sie sich - zum ersten Mal seit Langem - wohl. Doch ausgerechnet hier gibt es Bedenken von Seiten des Jugendamts: die Goldings sind Schwarz, Naomi ist weiß - und in solchen Fällen rechnet man mit »Identitätsproblemen«. Naomi kann sich zunächst nicht vorstellen, was damit gemeint sein soll. Sie stellt sich das Leben bei der Schwarzen Familie doch eher spannend vor: »Vielleicht würden sie mich ja sogar kiffen lassen. Und die Mutter könnte mir Zöpfchen flechten, so wie Solange Knowles welche hat. Oder meine Dance Moves aufpolieren.«

Als Naomi dann wirklich mit geflochtenen Zöpfen in der Sondereinrichtung auftaucht, die sie wegen zu vieler Schulverweise anstelle einer Schule besucht, gerät sie direkt mit Schwarzen Mitschülerinnen in einen gewaltvollen Konflikt.

Überhaupt sind Konflikte für Naomi an der Tagesordnung. Auch ihre einzigen beiden Freundinnen, Kim und Nats, sind nicht der Halt, den sie sich eigentlich wünscht und braucht. Bei ihnen muss sie sich verstellen und darf ihre Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit nicht zeigen. Denn Kim ist die Anführerin der drei Mädchen, ein wenig älter als Naomi und in einer Liebesbeziehung mit Nats, die eifersüchtig ist und Naomi darum gerne loswerden will. Durch eigene, teils traumatisierende Erfahrungen in verschiedenen Pflegefamilien sind auch diese beiden Jugendlichen desillusioniert: »Wenn du Teenager bist, hat niemand mehr Interesse an dir. Das ist die trostlose Wahrheit. Die Leute wollen süße kleine Babys mit süßen kleinen Grübchen adoptieren.«

Trostlosigkeit könnte sich angesichts der Schicksale wirklich breit machen, wäre Naomi nicht so schlagfertig, lustig und teilweise unverhohlen unverschämt. Ihre messerscharfen Analysen von etwaigen Pflegeeltern, denen Naomi gerne attestiert, eigentlich wohl schlimmer dran zu sein als sie selbst, sind urkomisch. In ihrer frechen und einfachen Sprache werden ganz große Themen multiperspektivisch verhandelt: Wie verhält es sich denn nun mit der kulturellen Aneignung? Gibt es so etwas wie Rassismus gegen Weiße überhaupt? Sollten Schwarze Familien wirklich lieber ausschließlich Schwarze Kinder aufnehmen? Warum müssen Mädchen wie Naomi, Kim und Nats so viel durchleiden, wenn es doch eigentlich ein System gibt, das sich um sie kümmern sollte? Und wem kann man noch trauen, wenn man schon so oft enttäuscht worden ist?

Alex Wheatle versteht es, mit Hilfe der Figur von Naomi diese grundlegenden Fragen aufzuwerfen und dabei den Leser*innen nicht gleich - mit dem erhobenen Zeigefinger - die Antworten mitzuliefern. Sein Roman regt zum Diskutieren an, aber auch zum Lachen. Und zum Mitfühlen. So wächst einem Naomi ans Herz mit ihrer Aufmüpfigkeit, aber auch mit all der Sehnsucht, die sie immer wieder durchscheinen lässt. Im Spannungsfeld zwischen eigenem Unabhängigkeitsstreben und dem Bedürfnis nach Geborgenheit macht sie wohl auch genau das durch, was wir alle kennen: erwachsen werden.

Alex Wheatle: Home Girl. A. d. Engl. v. Conny Lösch. Kunstmann. 280 S., geb., 18 €

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