Videokonferenz statt Dienstreise
Manche erzwungene Innovation während der Coronakrise hat das Zeug, künftig auch der Umwelt zu helfen
»Not macht erfinderisch«, lautet ein Sprichwort. Schiebt also die aktuelle Krise infolge der Covid-19-Pandemie eine Welle von Innovationen an? Von der Schule bis zum Bürgeramt, von der Buchhaltung bis zum Vertrieb wurden plötzlich die lange beiseite geschobenen digitalen Möglichkeiten lebenswichtig. Dabei zeigte sich schnell, dass im Bildungswesen über Jahre zu wenig investiert worden war.
Auf der anderen Seite gelang es in rekordverdächtig kurzer Zeit, mehrere neue Impfstoffe gegen das Virus Sars-CoV-2 zu entwickeln und an Zehntausenden Freiwilligen zu testen. Neu sind dabei nicht nur die Impfstoffe, sondern auch das Funktionsprinzip bei einigen davon. Bei den mRNA-Vakzinen ist es nicht notwendig, das Virus auf geeigneten Zellkulturen anzuzüchten, diese Impfstoffe lassen sich auch leichter anpassen, wenn das Virus mutiert.
Möglich wurde dieser Erfolg, weil sich im Zuge der Pandemie auch der Wissenschaftsbetrieb erheblich geändert hat. Nicht nur, dass praktisch alle relevanten Fachartikel zu Covid-19 derzeit frei zugänglich sind, auch die zugrundeliegenden Rohdaten sind es oft. Das war gerade im biomedizinischen Bereich bisher keineswegs selbstverständlich. Nicht selten wurden Studien, deren Ergebnisse den Erwartungen der Forscher oder ihrer Auftraggeber nicht entsprachen, erst gar nicht publiziert. Statt der üblichen Konkurrenz gibt es nun zumindest vorübergehend eine weltweite Zusammenarbeit.
Für Knut Blind, Innovationsforscher an der TU Berlin und am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI), ist überdies positiv, dass die Krise die Wissenschaft und die Wissenschaftler viel sichtbarer gemacht hat. »Wissenschaft bekommt stärker Gehör, zumindest bei uns in Deutschland.«
Nicht neu, aber in diesem Ausmaß noch nicht da gewesen ist die Digitalisierung. Sichtbarster Ausdruck dessen sind Besprechungen, Lehrveranstaltungen und wissenschaftliche Konferenzen, die online stattfinden. Oder etwa in der Kunst der Versuch, den Kontakt zum Publikum durch Online-Formate zu erhalten. Dabei sind allerdings jene Kulturstätten im Vorteil, die es bereits früher geschafft haben, zahlende Gäste über das Internet zu erreichen. Etwa die Berliner Philhartmoniker, deren Abonnentenzahl für die Digital Concert Hall sich in diesem Jahr auf 40 000 nahezu verdoppelte.
In der Wirtschaft wurden innerbetriebliche Prozesse angepasst. Laut einer Untersuchung des Fraunhofer ISI kam es bei 59 Prozent der befragten Betriebe zu solchen Veränderungen. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass neue digitale Lösungen während des ersten Lockdowns vor allem bei jenen Unternehmen eingeführt wurden, die schon zuvor sehr aktiv bei der Digitalisierung waren. Bei bisherigen Nichtnutzern digitaler Lösungen waren es nur 21 Prozent.
Bei den digitalen Lösungen zur Kommunikation wird es vermutlich nicht komplett zurück in die alten Zeiten gehen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir wieder in dem Ausmaß Dienstreisen haben werden wie in der Vergangenheit«, meint Blind. Die Reisebudgets in Unternehmen und Forschungseinrichtungen werden sicherlich in Zukunft gekürzt, weil man sagt, es hat ja jetzt funktioniert, man muss nicht so viel durch die Gegend reisen. Und diese Neuerung käme zudem auch der Umwelt zugute.
Allerdings zeigte die erste Ölpreiskrise 1973, dass solche Änderungen nicht zwangsläufig nachhaltig sind. Unter dem Druck der explodierenden Spritpreise arbeiten die meisten großen Autokonzerne an alternativen Antriebstechniken - von Wasserstoff-Verbrennungsmotoren über Brennstoffzellen bis hin zu Elektroautos. Das Interesse erlahmte aber schnell wieder, als die Ölpreise wieder fielen. Mitte der 1980er Jahre wurden alternative Antriebstechniken kaum noch in Veröffentlichungen erwähnt. Erst seit Anfang der 2000er Jahre wächst das Interesse wieder. Steigende Ölpreise und zunehmend fühlbare Auswirkungen der Klimaerwärmung dürften es befeuert haben.
Innovationsforscher Blind hofft deshalb, dass wir angesichts der Klimakrise die Pandemie auch als Chance begreifen. Je länger die Krise andauert, desto unwahrscheinlicher ist es aus seiner Sicht, dass das Pendel wieder in die alten Verhaltensweisen und Strukturen zurückschwingt.
»Die Finanzkrise vor gut zehn Jahren hat gezeigt, dass die Länder, die ihre Forschungs- und Entwicklungsausgaben reduziert haben, nicht so gut durch die Krise gekommen sind«, sagt Blind. Schweden und Deutschland, bei denen diese Ausgaben im Prinzip gleich geblieben seien, hätten nach der Krise zehn Jahre ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum gehabt. Das sollte nach Ansicht des Forschers eine Lehre für die aktuelle Krise sein. »Also nicht etwa den Rotstift bei den Forschungs- und Entwicklungsausgaben ansetzen. Das gilt sowohl für den privaten als auch für den öffentlichen Sektor.«
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