Die Welt als Betriebsunfall
Ulrich Weber erzählt das Leben Friedrich Dürrenmatts, der vor 100 Jahren geboren wurde
Der Vater war bestürzt. Er werde, hatte ihm Sohn Friedrich im Mai 1946 mit Entschiedenheit erklärt, das Studium an den Nagel hängen und auch seine Doktorarbeit nicht zu Ende schreiben, er wolle heiraten, jedoch nicht das Mädchen, mit dem er verlobt sei, und dann werde er sich der Literatur widmen.
Schon Jahre zuvor, 1942, hatte er an die Tür seiner Studentenbude in Zürich einen Zettel gehängt, auf dem stand: »Nihilistischer Dichter«. Damals schrieb er ein paar Erzählungen und auch einen ersten dramatischen Versuch, natürlich eine Weltuntergangskomödie.
Im Herbst 1946 machte er seine Ankündigung wahr: Er heiratete die theaterbesessene Schauspielerin Lotti Geissler, fand fürs Erste, da für eine Wohnung das Geld fehlte, Unterschlupf in einem Haus mit 48 Zimmern und wurde Schriftsteller.
Mit einer Pleite fing es an. Dürrenmatt hatte ein Wiedertäufer-Drama verfasst, genannt »Es steht geschrieben«, sein erstes wirkliches Stück, Protest gegen sein Elternhaus, gegen Heuchelei und den »guten Geschmack« des Bürgertums. Es handelte von einem Demagogen und Hochstapler, der sich zum König der Wiedertäufer krönen lässt, strikte Enthaltsamkeit und Unterordnung predigt, indes er selber alle Freiheiten genießt. Das Schauspielhaus Zürich nahm es an, und der stolze Jungdramatiker lud zur Uraufführung im April 1947 die Verwandtschaft ein. Sie wurde Zeuge seines Reinfalls. Es gab einen handfesten Skandal, das Publikum scharrte, pfiff, buhte, und die Presse höhnte, sprach von einem »gefährlichen Schauspiel«, einem »dramaturgischen Amoklauf« und vom »Rausch eines wild gewordenen Pubertäts-Dramatikers«. Monate später war die Schmach freilich vergessen. Dann erhielt der gedemütigte Autor den mit 3000 Franken dotierten Dramen-Preis der Schweizer Welti-Stiftung.
Jetzt, zum 100. Geburtstag Dürrenmatts an diesem Dienstag, feiern die Eidgenossen das »Erzählgenie« (»Neue Zürcher Zeitung«) mit Ausstellungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Theaterpremieren in Zürich, Basel und Neuchâtel, und der Diogenes-Verlag, der seit Jahrzehnten das Werk betreut, steuert eine Reihe wichtiger Editionen bei, so das fünfbändige »Stoffe«-Projekt mit bislang unveröffentlichten Texten, die Sammlung des Werks in zwei Taschenbuchkassetten mit 37 Bänden sowie eine neue, mit über 700 Seiten weit ausholende Biografie, verfasst von Ulrich Weber, der den Nachlass im schweizerischen Literaturarchiv betreut und auf viele Lebenszeugnisse zurückgreifen kann, die bislang unbekannt waren.
Dazu gehören Dürrenmatts Taschenkalender, auch wenn sie beträchtliche Lücken aufweisen, und die aufschlussreichen Briefe aus den Jahren der ersten, scheinbar harmonischen, aber ziemlich problembeladenen Ehe, belastet vor allem durch die psychische Labilität und den Alkoholismus seiner Frau Lotti. Trotzdem fiel Dürrenmatt, als sie 1983 mit 64 Jahren starb, in eine lang anhaltende Depression, aus der ihn erst die Schauspielerin, Filmemacherin und zweite Ehefrau Charlotte Kerr befreite.
Noch nie sah man so deutlich, wie sehr dieses Leben von Erschütterungen und Krisen, vom Wiederaufstehen und trotzigen Weitermachen geprägt war. Dürrenmatt kam aus einem evangelischen Pfarrhaushalt und rebellierte früh, ein verwahrloster Schüler und »wahnsinniger Chaot«. Die Religion sagte ihm nichts.
Er las Kant und Kierkegaard, las naturwissenschaftliche Bücher und wusste lange nicht, ob er Dichter oder Maler werden sollte. Er entschied sich erst einmal für die Literatur. Der Ruhm kam Anfang 1956 mit seinem Stück »Der Besuch der alten Dame«, dann, 1962, mit den »Physikern«, einer Komödie mit drei Insassen eines Irrenhauses im Zentrum, von denen zwei - einer, der sich für Newton ausgibt, und ein anderer, der als Einstein agiert - in Wahrheit Agenten feindlicher Mächte sind. Nur der dritte, Möbius, ist tatsächlich ein Physiker. Er versteckt sich unter den Kranken, weil er die verheerenden Folgen seiner Forschung, die Vernichtung der Menschheit, fürchtet. »Was einmal gedacht wurde«, so der zentrale Satz des Stücks, »kann nicht mehr zurückgenommen werden.« Ein paar Jahre zuvor, 1956, hatte Dürrenmatt Robert Jungks Buch »Heller als tausend Sonnen« begrüßt, das der Geschichte der Atomforschung nachging. »Es ist gut zu wissen«, schrieb er, »wie weit der Ast angesägt ist, auf dem wir sitzen. Eine Chronik vom Untergang einer Welt der reinen Vernunft.«
Brecht hielt die Welt noch für veränderbar, er, Dürrenmatt, nicht. Er begnügte sich damit, ihre heillose Verfassung vorzuführen, die der Einzelne nicht beeinflussen, allenfalls ertragen kann. Für ihn war die Welt ein »göttlicher Betriebsunfall«, wie Hans Mayer sagt, Ergebnis göttlichen (das meint menschlichen) Versagens, und noch in »Achterloh«, dem letzten Stück, einer spektakulären Collage, die 1986 ihre endgültige Fassung erhielt, steht das Irrenhaus als Metapher für die Zustände auf unserem Planeten.
Immer wieder ging es um die großen Menschheitsfragen, und immer wieder überraschte Dürrenmatt mit blitzenden Einfällen und grotesken Arrangements. Mit der einhelligen Zustimmung war es 1966, als sein »Meteor« uraufgeführt wurde, allerdings schon wieder vorbei, und als er sich 1973 nach der Vorstellung seiner bitterbösen Komödie »Der Mitmacher«, die auffallend humorlos die Aufhebung aller moralischen Kriterien vorführte, dem Publikum im Zürcher Schauspielhaus zeigte, prasselten ihm nur noch Buh-Rufe entgegen.
Dürrenmatt hat sich nach dieser eklatanten Niederlage vom Theater weitgehend verabschiedet. Die »Mitmacher«-Krise, schreibt Ulrich Weber, war der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben und Schreiben. Jetzt kehrte er zur Prosa zurück und zu seinem Projekt der »Stoffe«, dem Nachsinnen über sich selbst, der Darstellung seines Denkens und seiner Fantasie, dem gesamten Komplex seiner künstlerischen Arbeit; und es ist nicht das geringste Verdienst dieser Biografie, dass sie Dürrenmatt, den mancher gern auf den Theaterautor reduziert, als großartigen Erzähler würdigt.
Seine Qualitäten hat er ja schon früh in den glänzenden Kriminalromanen offenbart, mit denen er seine finanzielle Misere linderte, die Krönung jedoch schaffte er mit den »Stoffen«, die den Kosmos Dürrenmatt auf einmalige und faszinierende Weise sichtbar machen: mit Erinnerungen an Kindheit und Jugend, alten und neuen Geschichten, Erzählstücken, die einst entworfen und nun wieder aufgegriffen wurden, Gedanken über Schuld und Sühne, Politik, Philosophie und Naturwissenschaft.
Weber greift auf alles zurück, was Werk und Archiv ihm bieten. Er zeigt den Weltautor und Maler, den manischen Textarbeiter, den barocken Genießer, den die Diabetes-Erkrankung freilich zur Zurückhaltung zwang, den Kenner alter Weine, den Mann, der zum Verdruss seiner zweiten Frau am liebsten in alten Hemden und abgetragenen Hosen herumlief. Er erzählt von der schwierigen Freundschaft zu Max Frisch, seiner Großzügigkeit, seinem Reichtum, der nie seine politischen Ansichten beeinflusst hat, von den letzten Lebensjahren an der Seite von Charlotte Kerr, den Reisen, der gemeinsamen Arbeit, der Krankheit und der inszenierten Trauer nach Dürrenmatts Tod im Dezember 1990. Es ist eine sehr dichte, sorgfältig wägende, gut geschriebene Biografie mit enormer Faktenfülle geworden, zum Zentenarium das willkommene Geschenk.
Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Diogenes, 752 S., geb., 28 €.
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