Es gibt keinen Lockdown der innerparteilichen Demokratie

Linke-Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler über die Coronakrise und einen Parteitag in Pandemiezeiten

Die Wahl der neuen Linkspartei-Führung musste wegen der Coronakrise zweimal verschoben werden. Ist der Parteitagstermin Ende Februar sicher, oder droht wegen des verlängerten Lockdowns eine weitere Verschiebung?

Wir gehen davon aus, dass der Parteitag stattfindet, und haben dafür einen innovativen Weg gefunden: Am ersten Tag diskutieren und beschließen wir den Leitantrag online, am zweiten Tag wählen wir auf 16 dezentralen Parteitagsorten die Vorsitzenden und den Parteivorstand. Alle Orte sind miteinander verbunden. Es gibt zwar einen Lockdown, aber das ist kein Lockdown der innerparteilichen Demokratie. Wir kämpfen auch unter diesen Umständen für einen sozialen Aufbruch im Superwahljahr 2021.

Jörg Schindler

Der 48-Jährige ist Jurist und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Für die Linkspartei war er kommunalpolitisch in Wittenberg aktiv und stellvertretender Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt. Im Sommer 2018 wurde er zum Bundesgeschäftsführer der Linken gewählt. Auf dem Parteitag Ende Februar will er erneut für diese Funktion kandidieren.

Warum nicht ein komplett digitaler Parteitag wie bei der CDU?

Was die CDU vorhat, ist ja eher ein Demokratiezirkus: Reden der Parteiführung, ein paar Gastreden, und die Parteibasis kommt nicht zu Wort. Bei uns gibt es das starke Bedürfnis nach politischem Austausch. Da ist ein dezentraler Parteitag eine Möglichkeit, wenigstens teilweise in die direkte Debatte zu kommen.

Dieser Parteitag ist der erste Schritt ins Jahr der Bundestagswahl. Wann entscheidet die Linke über Wahlprogramm und Spitzenkandidaturen?

Das Wahlprogramm beschließen wir auf dem Parteitag im Juni in Berlin. Der Parteivorstand wird im April einen Entwurf vorlegen. Zur Spitzenkandidatur ist meine Meinung: Die innerparteiliche Demokratie gebietet es, dass wir zunächst die neuen Parteivorsitzenden wählen. Schließlich ist es die originäre Aufgabe der Vorsitzenden, der Partei einen Personal- und Verfahrensvorschlag zu unterbreiten.

Wie kann Wahlkampf unter Corona-Bedingungen aussehen?

Wir werden verstärkt in den sozialen Medien aktiv sein. Auch Briefwahl wird eine größere Rolle spielen. Aber auch in Corona-Zeiten wird die Wahl auf der Straße entschieden, über die direkte Mobilisierung, im Haustürwahlkampf. Ich bin optimistisch, dass das ab Sommer möglich sein wird. Unser Ziel ist es, die Union endlich in die Opposition zu schicken. Denn nur wir machen das Land sozial: Wir brauchen eine Politik der sozialen Garantien und einen wirksamen Klimaschutz. Und wir müssen endlich ein Verbot von Rüstungsexporten durchsetzen.

Wir brauchen einen Wechsel in der Wirtschaftspolitik sowie den Vorrang des Öffentlichen. Wir müssen investieren. Die Krankenhäuser wurden kaputtgespart und schaffen kaum noch die Grundversorgung. Die Schulen sind ausgestattet, als stünde die Digitalisierung noch bevor. Im ländlichen Raum gibt es kaum Breitbandversorgung. Wer hier lebt, wird buchstäblich abgehängt. Der Nahverkehr liegt darnieder - all das wollen wir grundsätzlich ändern.

Die sozialen Probleme der Pandemie thematisiert die Linke seit Monaten. In Umfragen steht sie bei etwa acht Prozent. Das dürfte unter ihren Ansprüchen liegen. Warum kann sie sich nicht mehr Gehör verschaffen?

Wenn sich ein politischer Bedarf entwickelt, werden unsere Ideen Mehrheiten finden, davon bin ich überzeugt. Wir sehen doch, wie wichtig die soziale Ausgestaltung der Krisenpolitik ist, wie wichtig es auch ist, uns für die Zukunft krisenfest zu machen. Der erste Lockdown im Frühjahr war neu, eine Ausnahmesituation. Jetzt ist das anders, es gibt Erfahrungen und viel stärkere soziale Konflikte. Zentral geht es um die Frage, wer die Kosten der Krise trägt. Und da sagen wir, das können nicht die normalen Leute sein, sondern diejenigen, die von der Krise profitieren. Deshalb fordern wir eine Vermögensabgabe, dafür steht die Linke als einzige Partei geschlossen.

Ist es das, was die Linke-Vorsitzende Katja Kipping mit solidarischem Lockdown meint?

Ich bin sehr froh, dass vom solidarischen Lockdown nicht nur Katja Kipping spricht. Das Konzept wird von der Partei- und Fraktionsspitze getragen. Wir machen klar: Selbstverständlich sind gesundheitliche Schutzmaßnahmen nötig. Aber dabei muss der gesellschaftliche Zusammenhalt organisiert werden. Hier versagt die Bundesregierung völlig. Besonders freut mich, dass wir im Konzept des solidarischen Lockdowns auch von Arbeitszeitverkürzung sprechen und von Bildung, die nicht vom Geldbeutel abhängt. Es geht um den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur.

Gehört dazu auch, die Produktion von Impfstoffen in staatliche Hand zu geben, damit sie kein Gegenstand von Profitinteressen und Konkurrenz ist?

Ja, so etwas meine ich mit dem Vorrang des Öffentlichen - dass die Gesellschaft darüber entscheidet, wie und zu welchem Zweck Impfstoffe produziert werden: Um Gewinn damit zu machen oder um uns vor Krankheiten zu schützen? Wir sind für Letzteres, und deshalb haben wir vorgeschlagen, die Impfstofflizenz freizugeben und zu prüfen, ob und wie weitere Firmen so einen Impfstoff produzieren können. Denn was alle brauchen, muss von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden.

Noch einmal: Warum schlagen sich solche Positionen nicht in messbarer politischer Zustimmung nieder? Und gibt es bei möglichen politischen Partnern ähnliche Forderungen?

Wir erleben den Moment, wo Merkel geht. Da wird noch mal vieles sichtbar, was sie politisch verbockt hat: kaputtgesparte Gesundheitsämter, baufällige Schulen, fehlende Infrastruktur. Dazu die Schuldenbremse, der Abbau sozialer Leistungen, Ignoranz gegenüber dem Klimaschutz. Oder diese dreckigen Deals mit Waffenexporten und zur Flüchtlingsabwehr. Merkels Modell liegt in der Krise als Scherbenhaufen vor uns. Da setzen wir an. Wir kämpfen für einen Politikwechsel und sind bereit, mit Partnern zusammenzuarbeiten. Das sind Umweltverbände, Gewerkschaften und andere. Und klar, auch Grüne und SPD.

Eine Bewegung für ein rot-rot-grünes Projekt ist aber nicht erkennbar.

In vielen Bereichen gibt es Gesprächsfäden. Beim Klimaschutz, auf gewerkschaftlicher Ebene, in der Sozialpolitik, auch bei notwendigen Investitionen. Aber Sie haben recht: Die Grünen flirten auch mit der CDU und schließen selbst die Wahl eines Kanzlers Merz nicht aus. Und der SPD-Kanzlerkandidat ist kein Vertreter des linken Flügels. Wir starren da nicht wie das Kaninchen auf die Schlange, sondern sagen selbstbewusst: Wir machen das Land sozial, wer sonst?

Hat die Linke genug getan, um ein politisches Projekt zwischen Rot, Rot und Grün anzuschieben?

Solche Mehrheiten müssen in der Gesellschaft wachsen. Wir als Linke haben immer wieder versucht, gemeinsame Sachen anzustoßen, und können da durchaus Druck entfalten. Beim Thema Mindestlohn haben wir die SPD getrieben, bis er zum Gesetz wurde.

Wenn man sich die Umfragen anschaut, dann zeigt sich: Verschiebungen gibt es oft vor allem innerhalb eines politischen Lagers. Wie soll da eine neue Mehrheit entstehen?

Ein Teil der CDU-Stärke sind die Merkel-Stimmen. Es ist nicht ausgemacht, was in Bewegung kommt, wenn der neue CDU-Vorsitz und die Kanzlerkandidatur klar sind. Und natürlich versuchen wir, möglichst viele Stimmen von bisherigen Nichtwählern zu gewinnen. Ich finde, die politische Entwicklung gibt uns in vielen Punkten recht: Der Neoliberalismus steckt in einer tiefen Krise, die Schuldenbremse wird von niemandem mehr ernsthaft vertreten, SPD und Grüne können Hartz IV als Verarmungsprogramm nicht mehr offensiv vertreten. Die Rüstungsexporte haben zur Destabilisierung ganzer Regionen geführt. Insofern können wir mit unseren Vorschlägen selbstbewusst in den Wahlkampf gehen.

Wenn die Coronakrise abklingt, wird eine viel größere Krise, der Klimawandel, wieder in den Vordergrund treten. Was kann man dafür aus der Coronakrise lernen?

Da kann man Parallelen ziehen. Wir brauchen schnelles Handeln. Wir brauchen beherzte staatliche Eingriffe. Denn der Markt regelt eben längst nicht alles. Und: Jede Krise kann nur mit sozialer Akzeptanz überwunden werden. Wenn die Leute Angst vor der Veränderung haben, weil sie fürchten, ihren sozialen Status zu verlieren, werden sie sich wehren. Klimaschutz als Verarmungsprogramm oder als Entwertung von Erwerbsbiografien wird nicht funktionieren. Er wird unterstützt, wenn er mit mehr Lebensqualität, Zeitsouveränität, auch mit sozialem Aufstieg verbunden ist.

Funktioniert das auch im globalen Maßstab, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Ausmaß der Norden auf Kosten des Südens lebt?

Sicherlich müssen wir unsere gesamte Produktions- und Lebensweise auf den Prüfstand stellen. Und über Fragen der globalen Gerechtigkeit müssen wir auf Augenhöhe mit den Ländern reden, die am stärksten gebeutelt sind. Ich warne dennoch vor einer Verzichtsethik: Gerechtigkeit bedeutet nicht Verzicht, sondern die bedürfnisgerechte Verteilung der Ressourcen.

Soziale Angst spielt auch in den teils radikalen Protesten gegen die Coronapolitik eine Rolle. Ist die Linke in dieser Auseinandersetzung eingeklemmt zwischen der Handlungsmacht der Regierenden und der Querdenker-Bewegung?

Auch in unserer Partei gab es verschiedene Positionen. Ich bin froh, dass wir nun einheitlich sagen: Die sozialen Fragen und Ängste müssen wir ernst nehmen. Aber es gibt klare Grenzen zum organisierten Rechtsextremismus, zu Verschwörungstheorien antisemitischer Art und anderen Vereinnahmungsversuchen. Und zum Schutz der Gesundheit stehen wir für einen solidarischen Lockdown. In dem Sinn sind wir nicht eingeklemmt, sondern haben eine eigenständige Position, die Gesundheitsschutz und soziale Flankierung verbindet.

Halten Sie Warnungen für gerechtfertigt, nach Überwindung der Coronakrise könnten die Einschränkungen der Grundrechte nicht zurückgenommen werden?

Jede Maßnahme im Lockdown muss sich unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lassen. Das gilt von Anfang bis Ende. Übrigens müssen wir, was den Lockdown betrifft, viel genauer auf die Arbeitswelt schauen. Es ist doch ein Widerspruch, dass sich die Leute im Privaten massiv einschränken sollen, in der Arbeitswelt aber davon kaum die Rede ist. Da müssen die Arbeitgeber, die großen Konzerne viel stärker in die Pflicht genommen werden. Warum gibt es keine verbindlichen Regelungen zum Gesundheits- und Arbeitsschutz in Unternehmen? Und keinen Corona-Erschwernis-Zuschlag für Beschäftigte? Haben Sie davon gehört, dass die Bundesregierung so etwas bei den Ministerpräsidenten angesprochen hätte? Die Leute haben eine gute Nase für diese Schieflage.

Apropos Arbeitsschutz: Wird am Ende des Linke-Parteitags wie üblich die »Internationale« gesungen?

Selbst singen - darauf werden wir diesmal verzichten müssen. Wir planen stattdessen eine kleine Überraschung. Aber ich bin dafür, den Gesang nachzuholen, wenn es wieder gefahrlos möglich ist.

Gotthilf Fischer für Linke sozusagen.

Genau.

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