Die Kosten des Profits

In der Pandemie rächt sich die Ökonomisierung der Alten- und Pflegeheime.

  • Kai-Uwe Helmers
  • Lesedauer: 7 Min.

Bei den anlaufenden Corona-Impfungen kommen alte Menschen früh an die Reihe. Denn für sie ist eine Infektion besonders bedrohlich. Gefährdet sind insbesondere jene, die in Senioren- und Pflegeeinrichtungen leben. »Jede zeitliche Verzögerung der Sicherstellung des Impfschutzes in Pflegeeinrichtungen wird zu mehr Todesfällen führen«, mahnt die Ärztekammer Hamburg. Es wird daher häufig gefragt, warum Menschen in diesen Einrichtungen nicht besser geschützt werden.

Der wesentliche Schutz für Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen wohnen, findet außerhalb dieser Einrichtungen statt. Das klingt banal, ist aber entscheidend. So sind immer wieder Stimmen zu hören, die meinen, Risikogruppen sollten geschützt werden und der Rest des Lebens könne mehr oder weniger wie gewohnt weitergehen. Auch das Bestreben, die Pandemie laufen zu lassen, um eine Herdenimmunität zu erreichen, geht mit der Idee einher, lediglich Risikogruppen zu schützen.

Aufgegriffen und vertreten wurde dieses Konzept von dem Virologen Hendrik Streeck und unterstützt wurde es durch das Agieren ärztlicher Spitzenfunktionäre in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sowie einigen Berufsverbänden. Kaschiert wurde mit solchen Argumenten das ökonomische Interesse der Praxen und Krankenhäuser, möglichst geöffnet und frequentiert zu bleiben, weswegen zu restriktive Maßnahmen vermieden werden sollten. Die Standesvertretungen nutzen dabei das Vertrauen in der Bevölkerung geschickt für ihre Interessen. Während bei Äußerungen aus der Gastronomie meist offensichtlich ökonomische Überlegungen das Argumentationsmuster bestimmen, wird das von Mediziner*innen in der Regel nicht erwartet.

Dass so viele Menschen in den Heimen sterben, liegt vornehmlich am Versagen des Infektionsschutzes in der gesamten Gesellschaft. Verantwortet wird das durch die Regierenden und die fehlende Korrektur durch gesellschaftliche Gegenkräfte. Dieses strukturelle Problem darf nicht auf das vermeintliche Versagen der Einrichtungen oder gar der Pflegenden verlagert werden. In diesem Zusammenhang sind anfängliche staatsanwaltliche Untersuchungen zu sehen. Ein Beispiel dafür sind die Ermittlungen gegen eine Reinigungskraft auf einer onkologischen Station der Uniklinik Hamburg, nachdem dort Coronainfektionen festgestellt wurden. Die meisten Ermittlungen, die die Verantwortung im Fehlverhalten einzelner vermuteten, wurden eingestellt.

Die gegenwärtige Zunahme der Infektionen in den Pflegeeinrichtungen etwa in Hamburg läuft parallel zu den steigenden Infektionszahlen und straft diejenigen Lügen, die glauben, man könne Heime isolieren und gänzlich vom Infektgeschehen im Rest der Gesellschaft abkoppeln. Auch umfangreicher Infektionsschutz in den Einrichtungen reicht bei hohen Inzidenzen nicht mehr, um Corona-Ausbrüche zu verhindern.

Was für Hamburg gilt, gilt für das gesamte Bundesgebiet sicher in ähnlicher Weise: Im März 2020 waren die Einrichtungen überrascht und nicht vorbereitet. So gab es zu wenig Schutzmaterial und nur sehr wenige Masken. Teilweise in Eigeninitiative und mit solidarischer Unterstützung wurden Stoffmasken besorgt und mehr und mehr getragen. Adäquates Schutzmaterial fehlte über lange Zeit. Im Verlauf wurde es in Hamburg obligatorisch, die Körpertemperatur von Bewohner*innen täglich zu messen. Bei erhöhten Werten wird eine ärztliche Abklärung nebst Abstrich veranlasst.

Anfänglich wurden strikte Besuchsverbote verordnet, im Sommer zurückgenommen und im Herbst modifiziert wieder eingeführt. Diese Besuchsverbote wurden zu Recht problematisiert, zeigten aber Wirkung. Sie haben die Isolation der Bewohner*innen mehr angezeigt denn verursacht. So hängt es von der Architektur und der Organisierung des Gemeinschaftsleben der Heime ab, ob die Menschen an Einsamkeit leiden. Leben sie einzeln in ihren Zimmern, kann ein Besuch pro Woche eine Isolation nicht beheben. Menschen, die an einem sozialen Leben vor Ort teilnehmen, sind nicht so stark von Einsamkeit betroffen. So waren Demente, die hauptsächlich Zeit in Gemeinschaftsräumen verbringen und aktiviert werden, kaum verändert. Die soziale Deprivation besteht ohne Besuchsverbote, auch wenn sie dadurch verstärkt werden kann.

Im Spätherbst wurden an die Einrichtungen ausreichend FFP2-Masken ausgeliefert, die von allen Beschäftigten vor Ort getragen wurden. Die Einführung von Schnelltests verlief chaotisch und von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Es gab keine einheitlichen Konzepte und die Beschaffung war jedem Pflegeheim selbst überlassen. Diese Tests haben einen Nutzen. Ihr Einsatz ist dennoch eine Notmaßnahme, die sich für Laien besser anhört als sie ist. Nicht alle Infizierten werden durch so einen Test erkannt. Neben den Testeigenschaften ist die Ergebnissicherheit abhängig davon, wie er ausgeführt wird.

Schnell wurde deutlich, dass Personal für die Durchführung fehlte - es sei denn, qualifiziertes Pflegepersonal wurde von der eigentlichen und schon tendenziell unterbesetzten Pflegearbeit abgezogen. Gerade an diesem Fachpersonal, das für die Ausführung gebraucht wird, besteht ein Mangel. In Hamburg wurden in der zweiten Januarwoche 20 Zentren eingerichtet, in denen die Besucher*innen sich mit der Bescheinigung eines Heimes testen lassen können. Ähnliches ist bundesweit geplant mit dem Einsatz Freiwilliger. Ein solcher Test gibt immer nur eine Momentaufnahme wieder und müsste in der gegenwärtigen Hochinzidenzphase bei jeder und jedem tagtäglich durchgeführt werden, nicht nur bei Besucher*innen. Wäre die Inzidenz niedrig, so hätten diese Tests wahrscheinlich weniger Bedeutung, da dann die falsch positive Rate sehr hoch und der Einsatz nicht effizient wäre.

Die Impfungen werden bisher in Hamburg nicht mit dem notwendigen Tempo durchgeführt. In der ersten Januarwoche gab es nur zwei mobile Impfeinheiten, die in ihrem bisherigen Tempo bis April bräuchten, um alle Bewohner*innen zu impfen. Zugleich wurde ein zentrales Impfzentrum eingerichtet, mit einer Kapazität von 7000 Impfungen täglich. So sah die Ärztekammer Hamburg die Notwendigkeit, in einer Pressemitteilung auf ein rasches Impfen in den Heimen zu drängen. Es gab die paradoxe Maßgabe, in von Corona betroffenen Einrichtungen nicht zu impfen: bei einer Quote von von 30 bis 50 Prozent betroffener Einrichtungen absurd und unverständlich. Das RKI hat sich mittlerweile klar dazu geäußert, dass gerade dort Impfungen stattfinden sollen, wo Ausbrüche zu beobachten sind. Der Impfstart offenbart eine Fehlplanung und eine Fehleinschätzung der zuständigen Sozialbehörde in Zusammenarbeit mit der durchführenden und beratenden Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, die gravierende Folgen haben kann.

Trotz lange bekanntem Pflegenotstand hat selbst die Mehrarbeit in dieser Pandemie nicht zu Einstellungen geführt. Zudem ist der Druck auf die Pflegenden noch gewachsen. Niemand will dafür verantwortlich sein, eine Coronainfektion in eine Einrichtung zu tragen. Das ist eine enorme permanente Belastung. Kommt es zu Infektionen, so ist die Beanspruchung maximal. Demente Coronainfizierte unter Infektionsschutzmaßnahmen zu versorgen, zu pflegen, zu waschen usw. stellt einen enormen Aufwand da. Gut schützende FFP3-Masken sind nicht ausreichend vorhanden. Die Pflegenden riskieren ihr Wohlergehen und das ihres nahen sozialen Umfeldes. Es entstehen maximale Arbeitszeitbelastungen, wenn Kolleg*innen durch Infekte ausfallen. Und sie können auch nicht ohne Abstriche kurzfristig ersetzt werden, da sie über lange Zeit Beziehungen zu den Pflegenden aufgebaut haben.

Die Pandemie ist ein gesellschaftliches Problem, sowohl was die Betroffenen angeht wie die Schutzmaßnahmen: So genannte Risikogruppen spiegeln im Wesentlichen soziale Ungleichheit wider. Überproportional gefährdet, an Corona schwer zu erkranken, sind häufig die Ärmsten und diejenigen, die diskriminiert und durch ungleiche Lebensbedingungen benachteiligt werden.

Gleichzeitig sind die strukturellen Mängel in den Pflegeeinrichtungen der Ökonomisierung des Sektors geschuldet. Medizin und die ambulante wie stationäre Pflege sind daran ausgerichtet, hohe und sichere Profite abzuwerfen, ebenso die Labore, die durch Millionen Tests hohe Gewinne erwarten. Die ökonomischen Interessen müssen kenntlich gemacht werden. Widersprüche zum Infektionsschutz müssen benannt werden und dürfen diesem nicht im Wege stehen.

Bisher setzen die Schutzmaßnahmen vornehmlich in der Sphäre der Reproduktion an, also im »Privatleben«. Ein konsequenterer Infektionsschutz bedarf aber auch der Eingriffe in Wirtschaftsabläufe und Produktion. Die medizinische wie pflegerische Versorgung ist eine soziale Aufgabe und kein Geschäftsfeld. Die Ökonomisierung der letzten Jahre hat dies überdeckt und die Versorgung verschlechtert. Das gilt es zu ändern.

Kai-Uwe Helmers ist seit 17 Jahren niedergelassener Arzt in Hamburg und betreut viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen. Er gehört dem erweiterten Vorstand des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte an.

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