Vom Stuhl bis zur fliegenden Stadt
Avantgarde als Methode: Ein Buch über die sowjetischen Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten, die 1930 von Stalin geschlossen wurden
Im Jahre 1936 schrieb Leo Trotzki in seiner Untersuchung »Verratene Revolution - Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?«: »Als die Diktatur sich noch auf eine begeisterte Massenbasis stützen konnte und noch die Perspektive der Weltrevolution vor Augen hatte, fürchtete sie weder die Experimente noch das Suchen, denn sie begriff, dass nur auf diesem Weg die neue Kulturepoche vorbereitet werden kann. (…) Die heutige herrschende Schicht hält sich für berufen, nicht nur politisch das geistige Schaffen zu kontrollieren, sondern ihm auch seinen Entwicklungsweg vorzuschreiben ...« Diese Zeilen galten wohl auch der Schließung der Moskauer Kunsthochschule 1930, den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten, deren Gründung Lenin Ende 1920 verkündet hatte und die unter der Abkürzung WChUTEMAS bekannt wurden.
Ihr Ziel lautete, unter Einbeziehung der bildenden Künste technisch, politisch und wissenschaftlich gebildete Architekten und Designer aller Fachrichtungen, »hoch qualifizierte Künstler-Praktiker für die moderne Gesellschaft« (Lenin) auszubilden. In den zehn Jahren ihres Bestehens waren sie ein Labor moderner Architektur und Kunst, in dem die unterschiedlichsten künstlerischen Ideen, Methoden und auch Ismen aufeinandertrafen. Anders als im Bauhaus wurde in dieser »Werkstatt des Neuen« also nicht die völlige Absage an vergangene »bürgerliche« Kunstformen propagiert, sondern es existierten allerlei Stile nebeneinander. Sie alle sollten einer sozialistischen Gesellschaft dienen, die Revolutionierung der Alltagskultur vorantreiben.
Ilja Ehrenburg erschien das Bauhaus »nur etwas strenger, sachlicher und fader vielleicht als die WChUTEMAS«. War das der Grund dafür, dass mehr als sechzig Bauhäusler in die Sowjetunion gingen? Die dortigen Werkstätten gliederten sich in acht Fakultäten - drei Kunstwerkstätten: Malerei (Tafel-, Monumental- und Dekorationsmalerei), Bildhauerei und Architektur sowie fünf Produktionswerkstätten: Grafik, Textil, Keramik, Metall- und Holzbearbeitung.
In den zehn Jahren des Bestehens dieser Werkstätten waren zu jedem Zeitpunkt mehr Studierende (vornehmlich proletarischer Herkunft) eingeschrieben als im Bauhaus oder in der bis dahin größten Kunstakademie Europas, der Pariser École des Beaux-Arts. Viele berühmte russische Künstler und Architekten der Avantgarde gehörten zumindest zeitweilig zu den Lehrern, darunter Alexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa, Wladimir Tatlin, Ljubow Popowa, El Lissitzky, Konstantin Melnikow, Moisej Ginsburg, Wassily Kandinsky und Alexandra Exter. Der Akademismus der Vergangenheit wurde für tot erklärt, und der Professoren- und Meisterkult sollte beendet werden - zugunsten von Kollektiven aus Lehrenden und Lernenden: »Wenn es ein wirklich proletarisches Konzept gibt, so zeigt es sich in dem Wort ›wir‹«, formulierte Anatoli Lunatscharski, der Volkskommissar für Bildung, der 1929 von Stalin entlassen wurde.
Die WChUTEMAS waren das russische Labor der Moderne und wurden weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Auf der »Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes« in Paris fanden 1925 der von Konstantin Stepanowitsch Melnikow entworfene sowjetische Pavillon sowie Alexander Michailowitsch Rodtschenkos Arbeiterklub höchste Anerkennung, und WChUTEMAS-Studenten wurden für ihre »neue analytische Methode, ihre Programme sowie experimentellen studentischen Arbeiten« mit einem Ehrendiplom ausgezeichnet. 1930 erschien in Wien das Buch »Russland: Architektur für eine Weltrevolution des Malers, Architekten, Typografen und Fotografen El Lissitzky«, in dem viele Projekte der Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten vorgestellt wurden.
El Lissitzky und Wassily Kandinsky spielten bei der Herausbildung der Vision für die neuen Werkstätten und bei der Förderung der Avantgarde in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution eine wichtige Rolle. Das kann man in dem Buch »Avant-Garde as Method - Vkhutemas and the Pedagogy of Space 1920-1930« von Anna Bokov nachlesen, einer erstklassig gestalteten und illustrierten Darstellung der Entwicklung der WChUTEMAS, die auf lange unberücksichtigt gebliebenen Archivalien basiert. Bokov will die Ursprünge, theoretischen Grundlagen und pädagogischen Methoden der Hochschule vorstellen. Bei Letzteren, so die Autorin, galt es, eine Vision zu entwickeln, die quasi als Bausatz für die angestrebte neue klassenlose Gesellschaft dienen konnte. Laut Bokov kam dem Architekten Nikolai Alexandrowitsch Ladowski dabei eine Schlüsselfunktion zu. Das von ihm initiierte Propädeutikum über »Raum« wurde rasch für alle Studenten verbindlich. Ladowskis »Ratio-Architektur« sollte ein Synthese aus der auf ökonomischen Prinzipien beruhenden technischen Rationalität und der architektonischen Rationalität sein, die sich mit der Ökonomie psychischer Energie befasst. »Die Architektur«, so fügte der Architekt Nikolai Dokutschajew hinzu, »muss aufhören, die Anarchie individueller Geschmäcker, Interpretationen und Gefühle zu sein.« Das architektonische »Raum«-Konzept wurde durch El Lissitzkys Konzept des Raumes in der Kunst ergänzt, mit dem das Fortschreiten vom Planimetrischen zum Zeitbasierten verfolgt werden sollte. Eine bedeutende Rolle spielte auch der Grafik-Kurs von Alexander Rodtschenko. In diesem, so schreibt der russische Kunsthistoriker Alexander Lawrentiew im Vorwort, ging es zunächst um Stillleben. Darunter haben wir uns allerdings nicht die realistische Darstellung von Früchten oder exotischen Gefäßen vorzustellen, sondern Konturen und einfache geometrische Kombinationen.
Laut Bokov haben die WChUTEMAS die Modernisierung des Designs vorangetrieben und ein neues ästhetisches Paradigma über die Disziplinen hinweg durchgesetzt. Das ging von der Gestaltung eines Stuhls bis zum Entwurf einer fliegenden Stadt vom Ladowski-Studenten Georgi Krutikow, reichte von Stoffmustern bis zu absolut neuartigen Kleidungsstücken, von typografischen Entwürfen bis zu avantgardistisch gestalteten Magazinen und Büchern. Dies lässt sich anhand der vielen grandiosen Abbildungen in Bokovs Buch nachvollziehen, deren Erläuterung durch Faksimiles wichtiger Originaltexte ergänzt wird.
Nach dem Ausbleiben der Revolution in den fortgeschrittenen westlichen Industrieländern wie Deutschland oder England wurden in der Sowjetunion die Bemühungen um revolutionäre Neuerungen sukzessive abgewürgt. Zukunftsentwürfe fielen bald unter das Verdikt des »Formalismus« und »Trotzkismus«, die üblichen Anwürfe der stalinschen Repression und des Terrors. 1927 wurden die WChUTEMAS in Höheres Künstlerisch-Technisches Institut (WChUTEIN) umbenannt; 1930 ließ Stalin schließlich die WChUTEIN schließen. Pawel Nowizki, ihr letzter Leiter, erklärte: »Wir verausgabten das Kapital, das seit der Revolution angehäuft worden war, durch die Zerstörung der Kunstschulen.«
Im Westen, so Bokov, wurde die »Werkstatt des Neuen« in den 30er Jahren als Teil der sowjetischen Propaganda betrachtet. Bokovs Buch erschien in englischer Sprache bei Park Books, einem Schwesterunternehmen des Kunst- und Architekturverlages Scheidegger & Spiess in Zürich. In deutscher Sprache hätte dieses profunde Werk wohl wegen der weitverbreiteten Russophobie und der antikommunistischen Reflexe zu wenig Interessenten gefunden.
Anna Bokov: Avant-Garde as Method - Vkhutemas and the Pedagogy of Space 1920-1930. Park Books, 624 S., 965 Farb- u. 80 S/w-Illustr., geb., 58 €.
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