Einfach dageblieben

33 Menschen lebten einst im abgelegenen Örtchen Mooshöhe in den österreichischen Alpen. Jetzt wohnt Ottilie Fuxjäger (87) ganz alleine dort. Eine Miniatur über die Landflucht.

  • René Laglstorfer
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Tilli Tant wartet schon auf euch«, sagt Kathrin Moser zum Autor und dem Fotografen und reicht ein Paar Würstel aus ihrem mobilen Kühlwagen. Hier bleibt nichts geheim. Jeden Mittwoch fährt die Metzgerin die 25 Kilometer aus der Nachbargemeinde Windischgarsten über den Hengstpass in die entlegene 200-Einwohner-Ortschaft Unterlaussa im äußersten Südosten Oberösterreichs, die nur über die Steiermark erreichbar ist. Kurz zuvor war sie mit ihrem Wagen bei Ottilie »Tilli« Fuxjäger im Dörfchen Mooshöhe. Die 87-Jährige mit schneeweißem Haar und leuchtend-blauem Kleid ist die letzte Bewohnerin ihres Örtchens, in dem sie seit 1954 lebt.

Damals hatte die Mooshöhe noch 33 Einwohner. »Alle fünf Häuser waren voll und 14 Kinder gingen in der heute verlassenen Bergbausiedlung Weißwasser zur Schule, wo einst mehr als 1000 Menschen lebten. Sogar einen Supermarkt haben wir gehabt«, sagt Fuxjäger, die von den meisten Bewohnern des vier Kilometer entfernten Unterlaussa liebevoll »Tilli Tant« genannt wird (Tant: umgangssprachlich für Tante, Anm. d. Red.). Sie sitzt mit Kater Max vor ihrem idyllischen Blockhaus auf einer Holzbank. Zehn Hennen und Hahn Hansi gackern aufgeregt um sie herum. »Solange ich lebe, möchte ich hier oben auf der Mooshöhe bleiben.«

»Ich streite nur mit dem Kater«

Fuxjäger kam 1933 in der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz als Ottilie Kronsteiner zur Welt. Zwei Jahre später starb ihre Mutter bei der Geburt ihres Bruders. »Ich wuchs ohne Vater beim Laussabauern im steirischen Weißenbach auf, wo meine Mutter Dienstmagd war. Ich hatte Glück. Selbst im Krieg hatten wir immer genug zum Essen.«

Auf der Laussabauern-Alm am Hengstpass arbeitete Fuxjäger als Sennerin. 1952 lernte sie dort oben ihren Mann Josef kennen. »Die ganze Bagage an Burschen ist zu uns auf die Alm gekommen, das war ein Spaß! Wir haben ja nichts gehabt außer Schnaps, Milch und ein Butterbrot«, sagt Fuxjäger. 1954 feierte sie Hochzeit. Im selben Jahr kam Sohn Josef in der Mooshöhe zur Welt. Auch Tochter Christa und Sohn Edwin wurden im winzigen Dorf geboren. »Bis zur Elektrifizierung der Mooshöhe 1957 hatten wir Petroleumlampen und ein Stachelbügeleisen mit Glut. Wir haben uns dann gleich ein Radio gekauft«, sagt Fuxjäger. Zwei Jahre später tat sich mit dem ersten Fernsehgerät ein weiteres Fenster zur Welt auf. Auf das erste hauseigene Telefon wartete die Familie bis Mitte der 70er-Jahre. »Da wurde mein Mann Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr von Unterlaussa und die Gemeinde Weyer bezahlte uns den Telefonanschluss, damit er erreichbar war.«

Trotz des Niedergangs des einst florierenden Bergbaus blieben die älteren Fuxjägers im Hochtal. Die Söhne Josef und Edwin begannen Lehren in der anderthalb Autostunden entfernten Bezirkshauptstadt Steyr. Tochter Christa ging nach Vorarlberg zum Arbeiten in der saisonalen Gastronomie. »Das hat meinem Mann wehgetan, dass sein Dirndl so weit weg heiratete. Meine Buam sind ja in der Nähe geblieben.«

Jede Woche fahren Josef und Edwin von Steyr die 75 Kilometer in die Mooshöhe, um ihre Mutter zu besuchen, nach dem Rechten zu schauen und sie gegebenenfalls zum Arzt zu bringen. Ob sie sich vorstellen könnte, einmal in die Stadt zu ihren Söhnen zu ziehen? »Jetzt bin ich schon so lange da, jetzt bleib’ ich auch. Man gewöhnt sich an das Alleinsein - streiten muss ich nur mit meinem Kater«, sagt Fuxjäger. Und sie hat immer was zu tun: Haushalt, kochen, Radiohören und das Schneemessen im Winter. »Im Sommer kommen viele Radfahrer vorbei, aber im Winter bin ich ganz allein. Da messe ich jeden Tag die Schneehöhe für die Landesregierung ab. Dafür bekomm’ ich zu Weihnachten 600 Euro. Diesen Winter haben wir bis jetzt nur 15 Zentimeter, vor zwei Jahren waren es 160 Zentimeter, da hat mein Neffe drei Wochen Schnee geschaufelt.«

Ihr Mann starb 2012. Die vorletzte Bewohnerin der Mooshöhe - ihre Schwägerin Frieda - vor vier Jahren. Traueranzeigen hängen neben vielen Familienfotos, einem Holzkreuz und einer Heiligenstatue in ihrem Häuschen. Einsam ist die »Tilli Tant« trotzdem nie dank Radio, Telefon und Fernseher, wie sie sagt. Zum Kochen nutzt Fuxjäger einen Holzherd. »In der Küche ist es heiß, aber im Wohnzimmer habe ich mir im Winter die Zehen abgefroren.« Das hat sich mit der neuen Infrarotheizung geändert. »Mein Arzt meint, dass ich 100 werde, aber so alt möchte ich gar nicht werden«, sagt Fuxjäger und lacht.

Jeden Donnerstag kommt der Bäcker aus der steirischen Nachbargemeinde Altenmarkt mit Lebensmitteln in die oberösterreichische Mooshöhe. Ob sich der weite Weg für eine einzige Kundin auszahle? »Soll ich sie verhungern lassen?«, fragt der Bäcker zurück und schüttelt den Kopf.

Phänomen Landflucht

Jede dritte Gemeinde in Oberösterreich ist in den vergangenen 15 Jahren von Abwanderung betroffen gewesen. »Vor allem Gemeinden im äußersten Süden und Norden verlieren Einwohner«, sagt Werner Lenzelbauer, Leiter der Abteilung Statistik in der oberösterreichischen Landesverwaltung. Dabei ist Oberösterreichs Einwohnerzahl im selben Zeitraum um 100 000 Menschen gewachsen, vor allem im bevölkerungsreichen Zentralraum zwischen den drei größten Städten Linz, Wels und Steyr.

»In Stadtnähe werden wie verrückt geförderte ›Wohnsilos‹ gebaut. Und auf dem Land stehen zahlreiche Wohnungen bewusst leer«, sagt Gerhard Klaffner, sozialdemokratischer Bürgermeister der rund 4300 Menschen zählenden Gemeinde Weyer, die mit einer Fläche von 224 Quadratkilometern die zweitgrößte in ganz Oberösterreich ist. Pro Quadratkilometer leben in Weyer im Schnitt gerade einmal 19 Menschen, in Österreich sind es 106, in Deutschland 233. Seit dem Jahr 2001 hat Weyer mehr als jeden zehnten Bewohner verloren, während der Bezirk Steyr-Land, zu dem die Gemeinde gehört, im selben Zeitraum um 3300 Einwohner gewachsen ist.

Um junge Generationen, die eine Familie gründen möchten, in der Gemeinde zu halten, habe der Bürgermeister einer gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaft vorgeschlagen, die 14 leer stehenden Wohnungen in der Ortschaft Anger für einen symbolischen Betrag an die Gemeinde zu verkaufen - und eine Abfuhr erhalten. »Wir hätten leistbare Eigentumswohnungen für Junge daraus gemacht. Jetzt wird das Haus, das ungefähr 25 Jahre alt ist, wohl abgerissen. Mit der neuen Bauschuttverordnung kostet das 150 000 Euro, die man sich sparen könnte«, sagt Klaffner.

Auch nahe des abgelegenen Dörfchens Mooshöhe steht in der Ortschaft Unterlaussa ein Block mit Mietwohnungen, die »alles andere als voll sind«. 1964 lebten in der früheren Bergbausiedlung noch 780 Einwohner, heute sind es 200. »Die Mooshöhe und weitere Ortschaften, wie Frenz oder Schönau, sterben aus. Die Politik muss sich entscheiden, ob sie den ländlichen Raum erhalten will oder nicht«, sagt der Weyrer Bürgermeister. Beispiele gebe es weltweit. In der Schweiz würden ganze Dörfer »heruntergefahren«, die Bewohner fünf bis zehn Jahre vorher informiert, dass sie sich nach einem neuen Wohnort umschauen sollen, bei dem es sich langfristig lohnt, die teure Infrastruktur aufrechtzuerhalten.

Einer der Gründe für die Absiedlung von entlegenen Ortschaften sind finanzielle Probleme von großen Gemeinden mit geringer Einwohnerzahl. »Denn es macht einen Unterschied, ob an einem Kanalstrang mit einem Kilometer Länge 10 000 oder 30 Bewohner hängen. Wenn der Gesetzgeber einen Kanal vorschreibt, dann ist er zu bauen.« Dabei könne Weyer seinen Budgethaushalt seit vielen Jahren nicht ausgleichen. »Und das, obwohl wir 2007 die beiden eigenständigen Gemeinden Weyer-Land und -Markt fusioniert und jetzt einen Amtsleiter und sechs Mitarbeiter weniger haben.«

Die öffentliche Verkehrsanbindung an den oberösterreichischen Zentralraum sei wesentlich. Viele Weyrer würden nach Steyr oder Linz zur Arbeit pendeln. »Aber hat die Landesverwaltung an uns als ländlichem Raum wirklich ein Interesse, wenn ich aus Weyer die 160 Kilometer nach Wien, je nach Zugverbindung, schneller unterwegs bin als die 80 Kilometer nach Linz?«, fragt Bürgermeister Klaffner. Er wünscht sich nicht nur Beteuerungen, den ländlichen Raum zu stärken, sondern endlich aktive Maßnahmen.

Der Blick über die Grenze kann dabei vielleicht helfen: Die norditalienische autonome Provinz Südtirol stoppte auf ihrem Gebiet die Landflucht weitgehend, in dem die Landesverwaltung ein gutes Straßennetz auch in den entlegensten Ortschaften aufbaute und Kleinschulen auch bei geringer Schüleranzahl erhalten blieben.

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