Mythen aus der Merkel-Ära

Bei der CDU-Chefwahl geht es auch um Gesellschaftspolitik.

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.

Um die Jahrtausendwende tobte in der Bundesrepublik ein Kulturkampf. Die damalige rot-grüne Regierung wollte Minderheiten mehr Rechte einräumen. Das Staatsbürgerschaftsrecht wurde reformiert und homosexuellen Paaren eine eingetragene Partnerschaft ermöglicht. Der damalige Unionsfraktionschef Friedrich Merz war ein erbitterter Kämpfer gegen diese Veränderungen. Aus einer Bundestagsdebatte von damals sind folgende Sätze von Merz zum Lebenspartnerschaftsgesetz überliefert: »Rot-Grün beabsichtigt mit dieser Neuregelung ganz offensichtlich eine grundlegende Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen.« Er warf sich verpartnernden Homosexuellen vor, den Schutz von Ehe und Familie »auszuhöhlen«.

Seine Unterstützer, die Merz bei der Vorstandswahl an diesem Wochenende auf dem CDU-Bundesparteitag die Daumen drücken, wünschen sich mit ihm an der Spitze eine Rückbesinnung der Partei auf diese vergangenen Zeiten, als ihre Interpretation des Christentums keinen gesellschaftlichen Liberalismus zuließ. Diese Menschen sind nicht nur CDU-Mitglieder älteren Semesters, sondern tummeln sich auch zahlreich in der Jungen Union. Dass Merz seine Haltungen in den vergangenen 20 Jahren beibehalten hat und vor homophoben Ausbrüchen nicht zurückschreckt, machte er erst vor wenigen Monaten in einem Interview deutlich. Da sprach er in einem Atemzug von Homosexualität und sexuellem Missbrauch von Kindern.

In der Ära von Kanzlerin Angela Merkel, die sich 2002 intern gegen Merz durchgesetzt hatte, hat sich die CDU bei gesellschaftlichen Fragen verändert. Ihre Abgeordneten stimmten auf Druck des Koalitionspartners SPD über die Öffnung der Ehe für Homosexuelle ab und die Kanzlerin verfolgte zeitweise eine humane Flüchtlingspolitik. In vielen Medien hält sich deswegen der Mythos, dass Merkel eine Liberale sei. Dagegen spricht, dass sie 2017 gegen das Ehegesetz stimmte und das Asylrecht verschärfte, kurz nachdem Deutschland viele Menschen aufgenommen hatte, die nur noch mit Gewalt an ihrer Einreise hätten gehindert werden können. Andere Optionen wären Merkel nicht geblieben.

Auch die oft erzählte Geschichte von der »Sozialdemokratisierung« der CDU ist eine Legende. Vielmehr hatte die SPD unter Kanzler Gerhard Schröder eine neoliberale Wende vollzogen und hielt im Kern an dessen Agenda 2010 fest. Deswegen regierte sie in den vergangenen Jahren so geräuschlos mit den Unionsparteien zusammen. Angemerkt sei aber auch, dass der soziale Kahlschlag viel radikaler gewesen wäre, wenn nicht Schröder und dann Merkel, sondern Leute wie Merz an den Schalthebeln gesessen hätten. Seine Forderung nach der Rente mit 70 ist hierfür nur ein Beispiel.

Die Abkehr der CDU von ihrer bisherigen Linie in der Migrations- und Gesellschaftspolitik war ein wichtiger Grund für den Aufstieg der AfD, in der sich viele Menschen heimisch fühlen, die früher von der weit nach rechts offenen Union integriert worden wären. Merz will sie zurückgewinnen. Er hatte einmal erklärt, darüber reden zu wollen, ob das Grundrecht auf Asyl in dieser Form überhaupt fortbestehen kann. Einwanderung soll sich nach seiner Ansicht nach Kapitalinteressen richten. In der Wirtschaft benötigte Fachkräfte würde der CDU-Politiker freundlich begrüßen.

Während Merz der Mief der Vergangenheit anhaftet, der bei nicht wenigen Konservativen Sehnsüchte auslöst, wollen seine Kontrahenten die Partei weiter »modernisieren«. Der Außenpolitiker Norbert Röttgen hat angekündigt, CDU-Ämter zu 50 Prozent mit Frauen zu besetzen. Dieses Versprechen könnte ihm bei weiblichen Delegierten Stimmen bringen. Bereits jetzt ist klar, dass mit dem Abtritt von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Angela Merkel, die im Herbst nicht erneut für die Kanzlerschaft kandidiert, vorerst eine Zeit zu Ende geht, in der Frauen die wichtigsten Positionen in der CDU eingenommen haben. Selbstverständlich hat Röttgen bei seinen Äußerungen über Frauen auch das weibliche Wählerpotenzial im Blick.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, die sich im Team als Vorsitzender und Vizechef bewerben, haben kürzlich in einem Gastbeitrag für den »Spiegel« angedeutet, dass die Partei diverser werden soll. »Spiegelt sich in unserer Mitgliedschaft das moderne, vielfältige Deutschland?«, fragen die beiden Politiker.

Wer sich als Migrant in der Bundesrepublik anpasst, darf bei ihnen mitmachen. Alle anderen sollen aus Sicht von Spahn und Laschet das Land schnellstmöglich verlassen. Sie nennen es »Ordnung in der Migrationspolitik« und meinen damit eine verschärfte Abschiebepolitik, auch in Kriegsgebiete. Jedenfalls in diesem Punkt sind sich alle Kandidaten für den CDU-Vorsitz einig.

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